Manche empfangen, andere nicht
Wenn ich aus dem Fenster schaue, blicke ich auf einen Friedhof. Dort liegen auch meine Großmutter und mein Großvater begraben. Ich besuche oft ihr Grab und mache dann noch einen Spaziergang. Es ist kein großes Feld, es liegen auch keine berühmten Zeitgenossen dort. Dennoch ist es eine Friedensstätte schon deswegen, weil hier, umgeben von mehreren Straßen, die sich um das Gelände schlängeln, manchmal paradiesische Ruhe herrscht. Das Schnaufen der Automobile, vereinzeltes Gehupe und Feuerwehrsirenen verkommen zu einem Geräuschwurm, der sich nur mit Mühe in den von vielen Eiben, Linden und Eichen umstellten Gottesacker hineinbohren kann.
Hier findet sich mit dem Krummen Pfuhl auch eine Trauerhalle im schönen Jugendstil, die unter Denkmalschutz steht, und wo zur letzten Erinnerung an meine Oma einer meiner Cousins auf der Gitarre „Tears In Heaven“ von Eric Clapton spielte.
Friedhöfe hatten für mich schon immer eine große Anziehungskraft: Hier benehmen sich die Menschen anders, alles ist mit Symbolik aufgeladen. Ich bin in Arbeitspausen oft über diese Friedenshaine, weil ich schnell zu Kräften komme, wenn mich nichts ablenkt. Ich habe auf Kirchhöfen fotografieren gelernt (keiner stört einen beim Suchen von Motiven, es findet sich schnell, dass es nicht um das Bild geht, das dabei entsteht, sondern der Prozess des Bildersuchens den eigentlichen Wert der Fotografie ausmacht). Ich habe dort viel Zeit nach nervenaufreibenden Streits verbracht. Ich habe Liebeserklärungen und Zornesbotschaften im Angesicht von Grablaternen und Blumenbeeten verschickt, denn emotionale Anstrengungen gelingen hier leichter. Ich habe auf diesem beschriebenen Friedhof die Nachricht vom Tod eines Freundes empfangen. Ich habe mich hier eines lästigen Wespennestes entledigt. Ich habe unzählige Begegnungen mit Tieren gehabt.
Den Tieren auf dem Friedhof näherkommen
Hier gibt es Wildbienen und Insekten aller Art, Füchse, Maulwürfe, Igel, Mäuse, Bachstelzen, Stockenten und chinesische Enten (in einem Teich mit Haubentauchern sowie einigen Reihern, die regelmäßig kommen und gehen) und generell sehr viele Vogelarten: Eulen, Kleiber, Spechte, Eichelheer, Spatzen und Meisen. Sogar einen Turmfalken mit Nachwuchs habe ich hier ausgemacht. Mensch und Tier und Pflanzen (darunter das seltene Habichtskraut) teilen sich diesen Ort. Eine Hauskatze mit Ausgangsmöglichkeit, die sich hierher verirrt hat, von der Fülle an potenzieller Beute angezogen, aber auf fast absurde Art davon überfordert, schleicht ganz langsam über das Territorium. Es ist nicht ihr Revier, es gehört ihren oft trauernden Herrchen und Frauchen und eben der zu gleichen Teilen gehegten und wilden Natur.
Wenn man mehr Zeit auf einem Friedhof verbringt, dann lernt man die Bestatter näher kennen. Sie sind wie Ameisen, die immer wieder in ihren Bau zurückkehren. Friedhöfe sind auch eine Art menschengemachtes Erdnest.
Diese immer stets in Uniform gekleideten Mittler zwischen Tod und Leben, nicht selten gleichsam Landschaftspfleger und Seelsorger, sorgen nicht nur für das letzte Geleit, sie hüten auch den Friedhof. Sie betreuen, vereinfacht gesagt, nicht nur die Toten, sondern versorgen auch die Lebewesen, die Friedhöfe bevölkern.
Das Leben der Eichhörnchen
Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Tiere dort ebenso Stille suchen wie wir. Eichhörnchen etwa verkriechen sich hoch oben auf die Baumkrone, wenn Friedhofsarbeiter das Laub kehren oder Müll beseitigen. Ich beobachte die Friedhofsnager seit einiger Zeit intensiv. Es gibt sehr viele von ihnen. Sie sind so zahlreich, dass sie sich gegenseitig in die Quere kommen. Dann gellen sie schrill, was ein wenig wie ein flüchtiges Wispern klingt. Diese schnatternden Laute könnten auch aus einer anderen Welt stammen und sie passen so gar nicht zu ihrem eher possierlichen Anblick. Dann jagen sie sich voller Eifer von Stamm zu Stamm. Es bleibt das leise Knacken von Rinde und Blattwerk.
An den Wasserstellen kamen vor einigen Jahren Eichhörnchen ums Leben. Sie ertranken jämmerlich. Seitdem wurden eigens kleine Leitern für sie angebaut. In der Stadt, gerade in Parks, geraten die Tiere oft in Not oder verenden früher als ihre Artgenossen in der Wildnis. Vor langer Zeit, als ich die Grabstelle von meiner Oma und meinem Opa besuchte - beide starben im Abstand von etwa zehn Jahren - gesellte sich zu mir oft ein Eichhörnchen. Damals vernahm ich noch nicht, wie viele es von ihnen dort gab und hielt mich an dem animistischen Aberglaube fest, dass hier eine Seele vielleicht nur den Körper gewechselt hat.
Ich bin nicht mit vielen Haustieren aufgewachsen und das Leben auf einem Bauernhof kenne ich eigentlich nur aus Geschichten. Für mich sind Tiere nicht Wesen, die an meiner Seite sind, sondern deren Nähe ich selbst suche. Das macht mich glücklich, auch wenn ich weiß, dass ein Fuchs, der vor mir, wenn ich auf einer Bank sitze, aus dem Dickicht springt und sich ohne Scheu niederlässt, nicht die gleiche Erfahrungsintensität zulässt wie der tägliche Gang mit einem Hund vor die Tür.
Das Beobachten von Tieren erfordert Geduld und die Gewissheit, dass man an manchen Tagen belohnt wird und an anderen Tagen nicht.
Ich habe einmal durch Zufall eine vom Boden aufgelesene Eichel in der Jackentasche deponiert und einem Eichhörnchen, das an einem Baum keck zur Seite blickte, um mich in Augenschein zu nehmen, hingehalten. Zu meiner Überraschung kam es näher. Ich hielt ihm die Baumfrucht hin, doch es ließ sich nicht von mir überzeugen, die Gabe anzunehmen. In den Tagen darauf bot ich die von ihrem neckischen Hütchen beraubte Eichel immer wieder an, um zu sehen, ob es nicht doch einen Abnehmer geben könnte.
An Nahrung dürfte es den Tieren nicht mangeln, schließlich purzeln sie fast aus jedem Baum, um etwas aus dem dichten, feuchten Herbstlaub zu scharren und dann eilig wieder zu verstecken. Eichhörnchen sammeln und verstecken, sie wappnen sich für den Winter, von dem sie nicht wissen können, wie lange und hart er ist. Vielleicht haben sie doch ein Gespür dafür. Warme Tage im Oktober. Regenkühle im November. Schnee oder nicht im Dezember. So könnten sie sich vorbereiten. Menschen sind da ja sehr unterschiedlich. Die einen setzen sehr auf Vorrat, andere suchen sich nur das Nötigste zusammen. Wer hortet, kann die Kontrolle darüber verlieren, was er zur zukünftigen (Wieder-)Verwendung in Besitz nimmt.
Eichhörnchen vergraben ihre Winternahrung. Sie tun dies für den naiven Beobachter fast willkürlich und nicht stets an einem Platz. Die Nager haben einen ausgezeichneten Geruchssinn und anscheinend auch ein passables Gedächtnis, wo sie etwas deponieren. Was trotzdem nicht gefunden wird, fängt an zu wachsen. Dieses Überlebensspiel hat auch einen Nutzen über die eigene Versorgung hinaus. Mit dem Nahrungsgeschenk ist es aber so eine Sache. Kommt einmal ein Eichhörnchen näher, dann hat es die Eichel in meiner Hand aus der Entfernung erspäht. Sie verzehren auch Haselnüsse, Bucheckern und verschiedene Pilzarten. Die lassen sie an Bäumen oder Ästen trocknen. Sie mögen auch viele Formen von Beeren und freuen sich über Mandeln, Sonnenblumenkerne und Kürbiskerne. Aber lege ich es ihnen direkt vor die üppig mit Krallen gestärkten Füße, dann können sie das Objekt der Begierde kaum erkennen. Eichhörnchen sind kurzsichtig. Aber sie riechen gut. Und sie haben feine Ohren. Nehmen sie die Nuss in ihre Pfoten, dann klopfen sie sie ab. Etwas Hohles kommt ihnen nicht ins Versteck.
Irgendwann begann ich bei meinen Suchen nach den Hörnchen sanft zu pfeifen oder die Zunge zu schnalzen. Es dauerte etwas, aber dann reagierten einige Tiere auf mein Werben, ihnen von meinem Futter etwas abzugeben. Ich sammelte fortan Eicheln, wenn sie mir vor den Füßen lagen, ich brachte Kerne und Nüsse mit. Inzwischen führen einige der Eichhörnchen einen regelrechten Tanz vor mir auf. Sie kommen gar nach einem Pfiff von mir bereits aus einigen Metern Entfernung angesprungen, um etwas abzubekommen. An manchen Tagen füttere ich so fünf, sechs Tiere, an anderen sehe ich nicht einmal eines. Einige von ihnen sind zu ängstlich, um sich von mir bedienen zu lassen, manche nehmen gleich mehrere Eicheln.
In solchen Momenten denke ich mir: Manche nehmen, anderen fällt dies schwer. Wer darauf vertraut, zu bekommen, verpasst es vielleicht, vorzusorgen, wenn die Hilfe ausbleibt. Wer keine Geschenke annimmt, aus welchen Gründen auch immer, der sorgt so eventuell nur intensiver dafür, dass er mehr hat, als er braucht.
Tieren geben
Der Soziologie und Ethnologe Marcel Mauss hat über das Wesen der Gabe geschrieben. Er erkannte in dem Wert, den wir dem Austausch von Geschenken beimessen, auch eine Spiegelung sozialer Beziehungen. Ich habe oft überlegt, warum Menschen nicht davon abzubringen sind, Enten und Schwäne zu füttern, obwohl dies schädlich für die Tiere ist und auch für die Artenvielfalt in dem Wasser, in dem sie leben. Es ist ein Bedürfnis, das bindet und Anerkennung bringt. Durch die Gabe des Futters entsteht eine Art von Beziehung, wenn auch asymmetrisch: Der Mensch gibt, das Tier empfängt.
Dieser Austausch kann das Gefühl des Teilens und Mitfühlens verstärken, ohne dass das Tier bewusst eine „Gegengabe“ erbringen muss. Menschen wünschen sich (wenn auch manchmal unbewusst) für Geschenke, dass man darauf reagiert. Tiere, die regelmäßig gefüttert werden, gewöhnen sich an die Menschen und „beschenken“ diese in gewisser Weise mit ihrer Nähe und ihrer Duldung. Es versteckt sich darin auch ein Wunsch nach universeller Harmonie und es benötigt Verantwortung, die Bedeutung eines Geschenks zu überdenken. Wer jemandem etwas Gutes tun will, braucht dafür Wissen, was dies sein könnte.
Nachdem ich mit Eicheln angefangen habe, las ich nach, was Eichhörnchen noch fressen, wie sie mit ihrem Proviant umgehen und wie ich manche Beobachtungen besser einordnen kann (so etwa das Ablehnen bestimmten Futters oder welche meiner Bewegungen ihnen Angst macht).
Es gibt ein archetypisches Staunen über Tiere, eine angeborene Sehnsucht nach ihnen. Aber ein bestimmtes Interesse, das sich auch erweitern kann zu einer wissenschaftlich fruchtbringenden Neugier, muss sich erst entwickeln.
„Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“
Mein Großvater, der hier auf diesem Friedhof begraben ist, legte mir zu Lebzeiten ein wichtiges Buch ans Herz. Es sei eines der schönsten, das er je gelesen habe. Ich habe meine Neigung zum Schreiben und zur Literatur zu einem großen Teil von ihm. Er probte mit mir das Schreiben, als er bei jenen üblichen Sonntagsbesuchen bei den Großeltern vor den launigen Gesprächen im Wohnzimmer in sein Arbeitszimmer floh, den Computer anschaltete und meine Gedanken auf der Tastatur zu einer Geschichte formte. So entstand eine Erzählung über eine traurige Seife. Aber auch gleich mehrere Lego-Verlebendigungen, lange Jahre bevor der Klötzchenkonzern auf die Plastikproduktion bekannter Hollywood-Narrative setzte.
Und mein Opa gewährte mir Zugang zu seiner Bibliothek. Er setzte mich seinen Büchern aus. Er sprach für mich Märchen auf Kassetten. Wegen ihm las ich später Günter Grass und blickte erstaunt auf das dickbauchige „Boot“ von Lothar-Günther Buchheim (manchmal ehrfürchtelt man vor Literatur nur wegen des Namens ihres Autors). Er machte mich mit Freud und Jung bekannt. Er schenkte mir mit Erich Fromm Einsichten über die Liebe, bevor mir das erste Mal das Herz gebrochen wurde. Er steckte mir erste erotische Lektüre zu. Dazu sagte mein Großvater: „Vergnügen am Sex haben nur Menschen mit Fantasie.“ Damit hat er recht, wie ich finde. Nach seinem Tod barg ich seine Tagebücher. Er schrieb stolz, dass ihm auch noch im hohen Alter die Kunst gelang, im Bett nicht nur zum Schlafen zu verweilen.
Neben all diesen Schätzen warb er aber vor allem für Konrad Lorenz. Vielleicht hatte er, der in seinem Beruf zur Aufgabe hatte, Kinder zu ertüchtigen und zu begeistern, Lorenz durch Fromm kennengelernt, der in Replik auf „Das sogenannte Böse“ (über die Naturgeschichte der Aggression) sein Buch „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (mit einer Charakteranalyse Adolf Hitlers) geschrieben hatte. Mehrfach habe er, so sagte es mein Großvater, vor Rührung weinen müssen, als er „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“ las. Es sei, so meinte er, die schönste Auseinandersetzung mit der Begegnung mit Tieren. Später las auch ich es und entdeckte darin das, was ich mir selbst im Studium als Ideal steckte: In jedem Werk, in jeder Arbeit auch etwas von sich selbst erkennbar zu machen.
Das Buch ist von großer Heiterkeit und prosaischen Einsichten in das Leben der Tierwelt geprägt. Eine der Protagonistinnen ist das Graugans-Küken Martina, das eine starke Bindung zu Lorenz aufbaute, ihm sogar ins Haus folgte und regelrecht eifersüchtig reagierte, wenn er Kontakt zu anderen Lebewesen suchte. Schüttelte der Tierforscher Menschen die Hand, versuchte Martina mit ihrem Schnabel zwischen die Hände zu geraten, um seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.
Gewiss, Konrad Lorenz wurde zurecht die Antropomorphisierung tierischer Verhaltensweisen und eine Trivialisierung von komplexen animalischen Trieben vorgeworfen.
Aber ihm ging es über seine Verhaltensberichte hinaus darum, mit pädagogischem Eros für die vertiefende Beziehung zu den Tieren in unserem Leben zu werben. Etwas, das nicht selbstverständlich ist und einige Übung braucht, aber der menschlichen Seele Halt, ja sogar Sinn gibt. Nicht nur in schweren Zeiten.
Mein Opa machte mir all dies zum Geschenk und bei jedem einzelnen Gang über den Friedhof, wenn ich an seinem Grab vorbeikomme, aber vor allem auch, wenn ich hier Ruhe finde und mich den Tieren und Pflanzen, den Bäumen, dem Himmel und dem Nass dort eng verbunden fühle, spüre ich Dankbarkeit. Ich staune dann, wie ein Ort des Todes gleichzeitig auch einer des pulsierendsten Lebens sein kann.