Lektionen der Liebe
Als ich jungen Jahren nicht weiter wusste, schenkte mir mein Großvater ein Buch von Erich Fromm: „Die Kunst des Liebens“.
In meinen Träumen hatte sich ein bleichzartes Mädchen um meinen Hals geschlungen und wollte sich auch nicht mehr aus den Schattenspielen der Nacht vertreiben lassen. Meine erste bittersüße Lektion der Liebe: Die Idee von Amor mit den Pfeilen ist kein schlechter Witz. Der Wundschmerz resultiert aber daraus, dass man keinen blassen Schimmer hat, warum das Herz eben genau für jene eine zu pochen beginnt. Und dann will diese Pfeilnarbe auch ein Leben lang nicht mehr heilen.
Wenn das Unbewusste rebelliert: Szene aus „Vergiss mein nicht“ |
Die nächste Lektion kam von Psychoanalytiker Fromm. Ich habe sie - genau wie die erste - nie wieder vergessen. Schon mit den ersten Zeilen seines berühmtesten Buchs, „Die Kunst des Liebens“, legte er mir einen Gedanken nahe, der mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal im Albtraum gekommen war: Menschen können unfähig zur Liebe sein, unfähig zur Liebe werden.
Eine ungeheuerliche, von jeder Romantik befreite Vorstellung und bis kurz vor dem Online-Dating-Zeitalter auch ein Tabu, wenn Menschen denn entdeckten, dass es bei ihnen tatsächlich so ist. Wer sprach denn früher je davon, nicht lieben zu können. Ein solches Bekenntnis käme der Offenbarung der Impotenz gleich.
Inzwischen gibt es Menschen, die kokettieren ganz offen mit ihrer Beziehungsunfähigkeit, online wie offline. Ihnen scheint nicht bewusst zu sein, was es wirklich bedeutet, nicht lieben zu können - und dass es kein größeres Unglück geben kann.
„Ich möchte den Leser davon überzeugen, daß alle seine Versuche zu lieben fehlschlagen müssen, sofern er nicht aktiv versucht, seine ganze Persönlichkeit zu entwickeln, und es ihm so gelingt, produktiv zu werden; ich möchte zeigen, daß es in der Liebe zu einem anderen Menschen überhaupt keine Erfüllung ohne die Liebe zum Nächsten, ohne wahre Demut, ohne Mut, Glaube und Disziplin geben kann“, schreibt Fromm.
Mit anderen Worten: Liebe ist Arbeit. Liebe benötigt Selbstbewusstsein. Wer von Liebe (Substantiv, passiv, nehmend, Mythos) spricht, meint etwas anderes als jener, der vom Lieben (Verb, aktiv, gebend, Realität) redet.
Fromm weiter: „Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist etwas, das man in sich entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt. (...) Die Liebe ist aber nicht nur ein Geben, ihr „aktiver“ Charakter zeigt sich auch darin, daß sie in allen ihren Formen stets folgende Grundelemente enthält: Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem anderen und Erkenntnis.“
Der auch politisch aktive Humanist Fromm verdichtete seine von Freud, Marx, Weber, Spinoza, Schweitzer und Zen-Buddhismus geprägten sozialpsychologischen Studien immer weiter, bis nur noch die mächtigen Atome „Sein“ und „Haben“ übrig blieben.
Vom ersten persönlichen wissenschaftlichen Meilenstein „Die Furcht vor der Freiheit“ (1941, über die Bedeutung der protestantischen Ethik für den modernen Kapitalismus) über „Jenseits der Illusionen“ (1962, über die Revision von Marx und Freud), „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (1974, über den biophilen und nekrophilen Charakter, mit einer Charakteranalyse Adolf Hitlers) bis hin zu „Haben oder Sein“ (1976, die Polariät aller Gedanken Fromms radikal fokussiert auf zwei Charakterorientierungen - aber auch die Andeutung seelischer Grundlagen einer neuen Gesellschaft) kristallisierte sich für ihn die Achtung als Königskategorie einer Ethik des Liebens heraus.
Der Andere liebt immer mit: Szene aus „Bin-Jip“ |
Fromm: „Achtung hat nichts mit Furcht und nichts mit Ehrfurcht zu tun: Sie bezeichnet die Fähigkeit, jemanden so zu sehen, wie er ist, und seine einzigartige Individualität wahrzunehmen. Achtung bezieht sich darauf, daß man ein echtes Interesse daran hat, daß der andere wachsen und sich entfalten kann. (...) Achtung gibt es nur auf der Grundlage der Freiheit: L'amour est l'enfant de la liberté (Liebe ist ein Kind der Freiheit) heißt es in einem alten französischen Lied.“
Ich habe jeden einzelnen Satz, der mir von Erich Fromm untergekommen ist, verschlungen und in mir aufbewahrt wie einen Schatz. Weil diese erste große intellektuelle Erschütterung meines Lebens so viel wog wie keine andere danach. Sie animierte mich auch dazu, die wenige Zeit, die mir auf Erden bleibt, auch so oft es eben geht dazu zu nutzen, das Werk eines Autors oder Künstlers oder Denkers vollständig, bis zum Epitaph zu ergründen.
Natürlich habe ich im Laufe meines (Selbst-)Studiums genügend Stimmen gehört, die einiges von dem, was Erich Fromm erklärt und schlussfolgert, widerlegen. Aber abgesehen davon, dass viele Anschauungen des selbst erklärten demokratischen Sozialisten heute herzklopfenerregend aktuell sind (Gefahren des Narzissmus', Massenkonsum, Marketing- und Tauschcharakter, Sehnsucht nach Transzendenz, Verlust der Identität, symbiotische Beziehungsmodelle als selbstzerstörerische „folie á deux“, Wertigkeit der Liebe nach ökonomischen Prinzipien, Aggression als Wirkweise eines entfremdeten, nicht gelebten Lebens, Forderung nach mehr politischer Teilhabe und nach einem bedingungslosen Grundeinkommen), bleibt mir „Die Kunst des Liebens“ auf ewig eine Aufforderung, Probleme, ob sie nun meine sind oder die der anderen, niemals nur auf mich zu beziehen, sondern sie auch gesellschaftlich zu verorten. Es bedeutet auch, zu wissen, dass jedes nichtfreie Handeln Maximen folgt, die ein anderes Handeln von vornherein ausschließen.
Was Erich Fromm mit seiner empirischen Sozialpsychologie aufdecken will, ist eigentlich banal und doch schwerwiegend: Etwas komplizierteres als zu lieben kann es für Menschen nicht geben - weswegen es liebende Menschen braucht, um die Wahrheit zu erkennen. Liebesunfähige Menschen sind nämlich für die Wahrheit blind.
Wer fähig ist zu lieben, der ist wahrhaft frei, Entscheidungen zu treffen, weil er sich vor deren Konsequenzen nicht fürchten muss.