Der väterliche Freund

Es gibt im Leben eines heranwachsenden Menschen irgendwann einen Punkt, da reichen die eigenen Erlebnisse und Geistesanstrengungen nicht mehr aus, um ein oder mehrere Probleme zu bewältigen.

Eine eigentlich fürs Leben geschlossene Beziehung zerbricht. Die eigenen Eltern wenden sich pikiert oder einfach desinteressiert ab. Das Studium findet kein gescheites Ende. Der Weg zur anständig bezahlten Arbeit, von Traumjob ist gar nicht zu sprechen, erfüllt sich nicht. Die Zahl der möglichen Schwierigkeiten ist Legion.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Menschen, die einem am nächsten stehen, in solchen Problemlagen nicht immer die richtigen Ratgeber sind. Zu sehr mischen sich in ihr Urteil zum Teil unrealistische Erwartungen (Familie), Verblendungen (enge Freunde) oder  sogar Abhängigkeit (Partner). Sollten sich die Schwierigkeiten dann noch mit den Lebenslinien der Liebsten ungünstig verbinden, werden aus Anregungen schnell Drohungen.

In solchen Fällen ist oftmals der väterliche Freund ein Leuchtturm, der mit seiner Lebenserfahrung und unvoreingenommener Güte einen neuen Weg zu zeigen in der Lage ist.

Was ist ein väterlicher Freund? 


Meist handelt es sich um einen wesentlich älteren Menschen, der in sehr vielen Fällen als Vorbild für einen jüngeren auftritt. Manchmal dient er als Projektionsfläche für die eigenen Berufs- oder Lebenswünsche. Er unterscheidet sich oft vom eigenen Vater, weil er eine andere Lebenseinstellung besitzt. Außerdem ist seine Autorität von anderen Voraussetzungen geprägt. Findet man einen solchen Menschen, entwickelt sich so oftmals ein Meister-Schüler-Verhältnis, das allerdings durchaus etwas von dem Druck befreit ist, dass einer lehren und der andere lernen muss. Ab und zu, aber nicht allzu häufig, bildet sich deshalb tatsächlich zwischen (ehemaligen) Pennälern und ihren Pädagogen eine solche innige Vertrauensbasis heraus.

Voraussetzung für eine solche Freundschaft ist, dass der väterliche Freund keinesfalls überlegen auftritt. Er sucht stattdessen im und mit dem anderen selbst neue Erfahrungen, spiegelt mit ihm vielleicht seine eigene Situation, in der er sich einmal als junger Mann befand. So tritt der väterliche Freund als ein kompetenter Ratgeber auf, stets bereit zu helfender Anteilnahme - ohne Herablassung, frei von Zwängen. Krumm lässt sich diese Beziehung vergleichen mit dem albernen Witzerzähler, der seinen idealen, stets breit lachenden Zuhörer gefunden hat. 

Vielleicht lässt sich die Bindewirkung aber auch seriöser mit Balzac erklären, der einer gelingenden Freundschaft scharfsinnig unterstellte, sie wirke vor allem deshalb so nachhaltig, weil sich jeder der beiden dem anderen gegenüber leicht im Vorteil sieht. So kokettiert hier der eine mit der Süße der Jugend und der andere mit der Weitsicht des Alters. 

In glücklichen Fällen öffnet ein solcher väterlicher Freund die Türen seines Heims, um den Freund mit jenen lukullischen und materialistischen Kostbarkeiten des Lebens zu verwöhnen, die dieser selbst noch nicht kennen oder gar anschaffen kann. Zusammen tafelt man von Porzellantellern, trinkt guten Rotwein oder schaut Filme aus einer längst vergangenen Zeit.

Für den jungen Freund bietet sich eine vorurteilsfreie Erweiterung seines Horizonts. Der ältere erhält indes die nicht selten einmalige Chance, seine längst zu Gewissheiten verformten Gedankengänge einer vitalen Prüfung zu unterziehen. So lässt sich voller Zuneigung für die Werte und den Glauben des anderen über Gott und die Welt, Kierkegaard oder Lubitsch, die Wonnen des Alleinseins oder die Vorzüge der Frauen sprechen.

Die Hierarchie bleibt bestehen


Solche Verhältnisse sind für gewöhnlich nicht ganz so eng wie Freundschaften auf Altersaugenhöhe. Die Verbindung bleibt geprägt von der psychischen Dynamik der Rangfolge, die sich durch Alter und sozialen Stand manifestiert hat und die beide trotz aller Sympathie trennt. Dennoch ist ein tragfähiger Dialog zweier solcher Menschen, die recht oft durch Zufall zueinander finden, ein wenig so, als würde sich hier eine Seele in zwei Körpern begegnen.

Entwickeln können sich solche Freundschaften, die einer Norm niemals entsprechen werden, allerdings nur, wenn beide Seiten sich öffnen für das Sosein des anderen. Diese Form der Freundschaft beruht auf Toleranz und ein Stück weit auch auf einer Sorge um das eigene Selbst. Sie schließt mit ein, dass nicht ganz so gewöhnliche Hilfe auch gesucht wird. (Denn nicht jeder lässt sich gerne helfen; der Stolz verbietet es einigen.) Sie verlangt das blinde Vertrauen zwischen einem freigeistigen Menschen, der bedingungslos lernen möchte und einem reifen, der zu lehren wirklich bereit ist. Kurz: Eine Frage des gegenseitigen, großzügigen Respekts.

Natürlich tritt ein solcher Mensch nicht immer nur in Zeiten der Jugend ins Leben. Eine solche Beziehung lässt sich auch im höheren Alter denken, wenn der Gesprächspartner vielleicht schon ein Greis ist und die letzten Funken seiner Weisheit gerne zu teilen bereit ist.

Überhaupt geht es hier um einen geradezu karitativen Prozess des Schenkens von Erfahrungen und Lebensgütern. 

Manchmal ergeben sich so sogar finanzielle Unterstützungen, die allerdings auch auf der nicht immer von ökonomischen Interessen befreiten Überzeugung beruhen, dass es sich lohnt, in einen (geliebten) Menschen zu investieren, damit er sich daraufhin weiterentwickelt.

Meister und Schüler


Diese Form der Kameradschaft ist oftmals eine auf Zeit, weil ihre Asymmetrie zu deutlich bleibt und auch nicht aufgelöst werden kann. Auch in der Halbwertzeit gleicht sie deshalb einer Meister-Schüler-Korrelation, in der sich einer hingibt, um seine Gedanken und Gefühle in einem anderen zum Blühen zu bringen - und ihn so zu stützen auf schwankendem Grund. Der nun Beschenkte  unterwirft sich nun bedingungslos dem Neuen und legt so selbst die Grundlage, später einmal als Lehrer für einen anderen Zögling zu wirken.
Insofern verändert und vertieft der väterliche Freund in einem Menschen, der Hilfe gleich welcher Art sucht, das Vertrauen in die Bedeutung, Größe und vor allem Notwendigkeit echter Freundschaft. Diese beschränkt sich nicht auf Selbstbestätigung, sondern auf die Erweiterung und Vertiefung von Erfahrung.

(In Erinnerung an TT.)

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