Perlen vom Meeresgrund
Manchmal, aber nur selten, öffnet sich im Kino eines bestimmten Landes ein Spalt für Außergewöhnliches. Dann entwickelt sich mitunter, von mutigen Experimenten angetrieben, eine ganz eigene, neue Filmsprache. So strahlten der deutsche Expressionismus oder der italienische Neorealismus weit über die Grenzen der heimischen Lichtspielhäuser hinweg. Denkt man an solche Neuen Wellen, fällt der Blick immer noch auf Frankreich in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren – auf Godard, Truffaut und Rivette. Mit der französischen Nouvelle Vague wuchs das Verständnis dafür, dass eine kleine Elite von Filmemachern in der Lage sein konnte, den Blick auf das, was Filmkunst ist, für immer zu verändern.
Zu jenen zahlreichen Bewegungen, die in den Sechzigern das Kino aufrüttelten, gehört aber auch die Tschechoslowakische Neue Welle. Sie ist ein wundersames, aber viel zu wenig beachtetes Beispiel dafür, was Künstler in einer repressiven Gesellschaft anstellen können, wenn für einen kurzen Zeitraum der frische Wind der Freiheit weht. Heraus kamen dort aber nicht nur äsopische Fabeln über das Leben hinter Gefängnismauern, wie sie im Westen stets auch heute noch mit perverser Neugier von den Filmemachern in rückwärtsgewandten Gesellschaften erwartet werden.
Stattdessen lieferten die Regisseure der Tschechoslowakei anspruchsvolle Reflexionen über den Realismus im Film, kühne Literaturverfilmungen, bittersüße, nachdenklich stimmende Komödien, bizarre Horrorstudien und funkelnden Fantasy-Brokat. Ein Kino also wie es in den meisten Nationen nicht einmal existiert, obwohl Freiheit, Geld und kreative Ressourcen da wären.
Diese Renaissance, die auch mit dem Aufblühen des Films in anderen osteuropäischen Ländern, so etwa in Polen oder Ungarn, einherging, demonstrierte aber auch, wie rasant eine gerade erst erkämpfte Autonomie unter den sich rasch wandelnden politischen Umständen zermürbt werden konnte. Nach dem von der Sowjetunion militärisch niedergeschlagenen Prager Frühling (der Bemühung der kommunistischen Partei unter Alexander Dubček, für demokratische Verhältnisse zu sorgen) flohen viele Filmemacher ins Ausland.
Andere mussten wieder brave Klamotten drehen. Diejenigen, die blieben und weiter unbequeme Filme machten, mussten miterleben, wie diese im Giftschrank verschwanden. Zum Beispiel Jirí Menzel, der für die Wiederaufführung seines 1969 verbotenen Films „Lerchen am Faden“ bis 1990 warten musste, dann aber auf der Berlinale den Goldenen Bären gewann.
Die Tschechoslowakischen Kinos spulten in den späten 50ern und frühen 60er-Jahren fast überall cineastische Magerkost ab: kitschige Heimatfilme und pathetische Historienschinken, die das Wohl des kleinen Mannes feierten. Mit diesen Standards des Unterhaltungsfilms brachen die Protagonisten des jungen tschechoslowakischen Films radikal. Sie entwarfen antitotalitäre politische Parabeln („Vom Fest und den Gästen“), entdeckten den Krieg als Schauplatz für amouröse Abenteuer („Liebe nach Fahrplan“, gewann 1968 den Auslandsoscar), demaskierten die sowjetischen Machthaber als korrupt und gefährlich („Mut für den Alltag“), schufen mit Puppenspiel und Animationskunst philosophische Vexierspiele (Jan Švankmajer) und verwandelten sogar das Mittelalter in einen Schauplatz für eine berauschende Filmoper („Marketa Lazarová“), die „Game of Thrones“ wie eine Kinderzimmervariation eines düsteren Zeitalters aussehen lässt.
Diese stilistisch eigenwillige Welle nahm ihren Anfang fast zeitgleich mit der „Rehabilitierung“ des in Osteuropa jahrzehntelang verfemten Franz Kafka im Jahr 1963. Die engagierten Regisseure konnten stolz auf einen heimischen Dichter sein, der mit seiner dunklen und zugleich absurd-komischen Sprachkunst die klaffenden Wunden der menschlichen Existenz wahrhaftig freigelegt hatte. Wenngleich sich nur wenige Filme der Tschechoslowakischen Nouvelle Vague direkt auf Kafka beriefen (zum Beispiel der fast vergessene „Joseph Kilian“), bezogen sich andere ganz bewusst auf experimentierfreudige Schriftsteller aus der Heimat wie Vladislav Vančura, Bohumil Hrabal oder Víteˇzslav Nezval. Sie lieferten die Vorlagen für einige der erstaunlichsten Filme, die das europäische Kino bis heute hervorgebracht hat.
Verbunden bleibt die Bewegung bis heute vor allem mit dem wohl berühmtesten Vertreter aus ihren Reihen, dem mit „Einer flog über das Kuckucksnest“ zu Weltruhm gelangten und 2018 verstorbenen Miloš Forman. Der Regisseur drehte in der Tschechoslowakei nach seiner Ausbildung an der Filmschule FAMU nur drei Langfilme, bevor er in die USA emigrierte. Mit der melancholisch-chaplinesken Sozialsatire „Die Liebe einer Blondine“ feierte Forman gemeinsam mit Laienschauspielern die Wonnen und die Nöte der Jugend. Dazu wagte er es, vollständig entblößte Liebende auf eine spielerische Art zu zeigen, wie es zu der Zeit in den Ostblockstaaten eine absolute Seltenheit war. Und er vertraute auf die magische Anziehungskraft schüchterner Mädchen, wie überhaupt die Wellen-Filme viel Feingespür für die Hoffnungen und Sorgen der Frauen entwickelten.
Noch erstaunlicher geriet aber „Der Feuerwehrball“, eine volkstümliche, episodisch erzählte Satire. Sie spielt in einem kleinen Dorf, in dem ein von der freiwilligen Feuerwehr organisierter Ball, bei dem auch eine Schönheitskönigin unter den widrigsten Umständen gefunden werden soll, im reinsten Chaos endet. Und das nur, weil ausgerechnet ein Feuer ausbricht. Der naturalistisch inszenierte Film ist ein Höhepunkt der Komödienkunst, wurde erst verboten, dann wieder freigegeben und schließlich endgültig verbannt, als die sowjetischen Truppen in Prag einmarschierten. In der Tschechoslowakei zunächst ein Hit, wurde er durch seine spätere Ächtung mit zum Anlass für Forman, seine Heimat zu verlassen und Bürger Amerikas zu werden. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten drehte der Regisseur gleich mehrere Meisterwerke („Einer flog übers Kuckucksnest“, „Amadeus“), die den Kampf der Freigeister gegen den schwachsinnigen (Staats-)Apparat versinnbildlichten.
Die Helden der Tschechoslowakischen Welle, die wie Kameramann Jaroslav Kučera, Komponist Zdenek Liška oder Drehbuchautorin Ester Krumbachová in vielen Filmen zusammenarbeiteten und so eine verschworene Einheit bildeten, waren keine jungen Wilden mehr.
Vielmehr schlossen sich hier Künstler aller Altersklassen und intellektueller Provenienz zusammen, um ein Kino zu gestalten, das den brennenden Faden der rebellierenden Jugend im Westen aufnahm und mit jener eigentümlichen, skeptischen Schwermut ablöschte, die in den Künsten Osteuropas seit Jahrhunderten den Ton angibt.
Wenn man sich auch in vielem nicht einig war, so blieb doch die Suche nach einer manchmal ungeschönten, oftmals aber auch bewusst andersartigen Sicht auf die Realität. Das ließ singuläre Kunstwerke wie „Tausendschönchen“ von Vera Chytilová entstehen. Gleichsam Groteske und Dekor- und Farbexperiment, beobachtet der freisinnigste aller Filme der Welle zwei freche Gören (Marie 1 und Marie 2) bei zahlreichen anarchistischen Abenteuern und Fressorgien, völlig ohne narrative Fesseln und Sinnzwang.
Als der Einmarsch der Sowjetsoldaten in der Tschechoslowakei schon längst alle Hoffnungen auf eine Fortsetzung solcher Auswüchse zerstört hatte, erschien „Valerie – Eine Woche voller Wunder“ von Jaromil Jireš 1970 noch wie ein lautes Echo auf diesen feministischen Reigen. Die atemberaubende Variation auf „Alice im Wunderland“ (mit dem brillanten Soundtrack von Luboš Fišer) sollte eigentlich zur Festzeit laufen wie sonst „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Der führt zwar noch etwas Herzblut der Welle mit sich, aber dürfte doch allein wegen seines sorgsam inszenierten Kitsches zum Klassiker geworden sein.
Es ist schade, dass dieses hübsch-harmlose Märchen der einzige Film aus unserem Nachbarland ist, der hier wirklich bekannt ist. Das hat aber auch einen traurigen Grund: Nur eine Handvoll der Klassiker der Tschechoslowakischen Neuen Welle gibt es hierzulande auch auf DVD oder Blu-ray. Dabei sind Filme wie „Der fünfte Reiter ist die Angst“ von Zbynek Brynych oder „Intime Beleuchtung“ von Ivan Passer und viele andere Werke dieser ausgesprochen zeitlosen Neuen Welle echte Perlen vom cineastischen Meeresgrund.
Dieser Text erschien zuerst in „ME Movies“