Achtung: Es wird gleich schön und anstrengend
Prolog
Auf der Liste der Dinge, die meine Eltern scheuten wie der Beamte unbezahlte Überstunden, gehörte immer das Abonnement. Bloß nichts abschließen, man könnte ein Leben lang gebunden sein, ohne je wieder davon loskommen zu können. So vermittelten sie es mir zumindest. Deshalb versuchte ich sie also vergeblich zu überreden, mir die Micky Maus, P.M. oder den Kicker nachhause liefern zu lassen (es reichte dann in Jugendzeiten irgendwann immerhin zur SportBild, auch wenn ich immer noch die panische Vorsicht in Erinnerung habe, die sich in den Augen meiner Mutter abzeichnete, als sie den ausgeschnittenen Aboantrag ausfüllte).
Ich wurde so zwar zum besten Kioskkunden, den man sich vorstellen kann („kaufst du dir jeden Tag ein Heft?“, verspottete man mich auf dem Schulhof), aber spätestens seit dem ersten Zeitungsabo habe ich die eingetrichterte Furcht vor der garantierten Lieferung von bedrucktem Papier eingestellt. Ich habe es nicht bereut - und ein Zeitungsabonnement hat ja noch jedes Leben verändert. Bis auf ein paar kleine Reibereien verlief im Grunde jedes Abo problemlos, auch bei der Kündigung. Manche Postillen telefonieren einem aber gnadenlos hinterher oder werfen alle zwei Monate billige Angebote (5 Ausgaben für 10 Euro, selbstredend mit Kündigungsfrist) in den Briefkasten.
In Deutschland gibt es ja seit jeher eine ziemlich rigiden Umgang mit jenen Lesern, die sich freundlicherweise entschließen, einem Blatt für einen längeren Zeitraum die Treue zu halten.
Kurzabonnements mit Kündigungspflicht (siehe Kleingedrucktes). Billige Geschenke zur Bestellung (Plastikuhren, Füllfederhalter, Umhängetaschen - Made in China). Zusatzkosten fürs Digitalmodell. Viele Monate Kündigungsfrist (okay, das ist nach Jahrzehnten jetzt vorbei). Man schaut neidisch in andere Länder, wo man sich wundert, wie Leser so etwas tolerieren können.
Anders verhält es sich mit dem immer schon sehr beliebten Werben neuer Abonnenten. Da sind die Deutschen ganz vorne dabei. Jedes Magazin hat ein Programm, bietet Werbern attraktive Boni. Nachvollziehbar ist es ja: Wer anderen Menschen Lektüre empfiehlt, der tut es oft mit gutem Gewissen oder sogar aus unverbesserlicher Leidenschaft. Man möchte andere vielleicht sogar davon überzeugen, das richtige zu lesen (einst hatte das viel mit politischer Überzeugung zu tun, inzwischen geht es eher um Moralisches).
Ich habe noch nie einen Menschen für ein Abonnement angeworben, obwohl ich bisher in meinem Leben unzählbar viele Zeitungen und Zeitschriften mehr als eine Ausgabe lang gelesen habe. Ich habe mich immer ein wenig dafür geschämt, anderen - vor allem dann, wenn ich mit ihnen befreundet bin - Gedrucktes zu empfehlen, wofür ich mich begeistere.
Ganz so einfach ist das ja auch nicht. Werbe ich für meine Tageszeitung, dann hielte man mich eventuell nur deswegen für konservativ. Böte ich mein TV-Spartenmagazin an, man hielte mich wohl für einen Kultursnob. Und ich würde ja ein gerne frequentiertes Magazin für Erotik weiterempfehlen, weil es wirklich gut gemacht ist - aber es richtet sich in der Ansprache und Optik so sehr an Frauen, dass es schon deshalb an einen bestimmten Personenkreis schwer zu vermitteln ist. Die Gegenwartshölle der gesellschaftlichen Pluralisierung, aber das ist ein anderes Thema.
DUMMY
Es gibt aber ein Magazin, für das würde ich bedingungslos und von Herzen Leser werben: DUMMY. Dabei handelt es sich nach eigenen Angaben um ein unabhängiges Gesellschaftsmagazin, das vierteljährlich mit jeweils einem eigenen Thema und in jeweils eigenständigem neuen Layout erscheint. Das Heft lag zum ersten Mal 2003 beim Zeitschriftenhändler, ich lese es seit 2006 - und bereue keine einzige Leseminute. Es handelt sich dabei auch um eines jener Zeitschriftenerzeugnisse, die man bedenkenlos auf dem Wohnzimmertischlein liegen lassen kann, es würde von jedem, der es dort zum ersten Mal erspäht, in die Hand genommen werden. Auch deswegen, weil unklar ist, was einen erwartet.
Das liegt auch an der klugen Themenwahl (Magazine mit den Titeln: Türken, Mama, Scheiße, Pfusch, Schlamassel, Suizid) und frechen Gestaltung (eine lachende Heidi Klum auf dem Cover zum Thema Provinz, ein Strichmännchen-Porno für Abenteuer, und immer wieder freche Slogans: „Kaufen Sie lieber den 'Spiegel', die haben es nötiger“; „Dieses Heft könnte zu Kreislaufproblemen, Schwindel und Angstgefühlen führen“; „Für dieses Heft würde man im Iran einen Kopf kürzer gemacht“; „Schweizer können kein Deutsch. Sie sind langweilig und bieder. Sie verstecken das Geld von Diktatoren und im Fußball sind sie totale Nieten. Den Rest finden Sie im Heft“) sowie einem ungewöhnlichen Gespür, progressive gesellschaftliche Entwicklungen mit der gebotenen Neugier, aber ohne blinde Gefallsucht zu beschreiben und seit Jahrzehnten bekannte negative Tendenzen mit jugendlicher Gelassenheit zu paraphrasieren.
Im Grunde ist DUMMY trotz seiner manchmal wild und sehr subjektiv erzählenden Autoren ein spießiges Magazin, denn seine Herausgeber glauben fest an die Wirkung eines gebundenen Blocks mit buntem Papier, der dazu einlädt, eigene Vorurteile zu hinterfragen und neue Erkenntnisse zu suchen.
Die Sensationsgier und überdrehte Leidenschaft für die vorgeblich investigative, oft aber narrativ montierte Reportage des Internetjournalismus' ist den Machern ein Fremdwort. Im Geiste ist man sich seit der ersten Ausgabe treu geblieben. Die Erscheinungsweise und das selbstsichere Konzept, das ja im Grunde das mögliche eigene Scheitern schon mitdenkt (im Zeitschriftengewerbe nennt man die erste, manchmal nur in bestimmten Regionen ausgelegte Testausgabe 'Dummy'), zugleich aber robustes Experimentieren über einen vorgegebenen Themenhorizont erlaubt, haben jedenfalls dafür gesorgt, dass DUMMY niemals langweilig geworden ist und sich den krummen Erfordernissen der ökonomischen Zwänge des Marktes erfolgreich entziehen konnte. (Der kunterbunte Stern-Ableger NEON probierte dies auch jahrelang, bevor er an dein eigenen Ansprüchen scheiterte und seine dann irgendwann doch erwachsen werdende Klientel aus den Augen verlor.)
So entwickelten sich manche Ausgaben zu echten Glücksfällen, etwa ein ganzes Heft über Behinderte, das es schaffte, durch dieses von allzu vorsichtiger Sensibilität umstülpte und politischer Gutgemeintheit umspannte Mienengebiet mit Humor und Sanftmut geradezu abenteuerlustig hindurch zu brettern. Wie ist es, mit einem Rollstuhl durch Münster zu fahren? Wie ist für Prostituierte, Sex mit Behinderten zu haben? Wie ist es, einen folgenschweren Unfall zu haben und nie wieder das tun zu können, was für die meisten selbstverständlich ist? Wie ist „Freaks“, dieser legendäre Horror-Kunstfilm aus den 30ern? Wie ist das Leben mit einem Behindertenausweis? Muss erwähnt werden, dass auf dem Cover auch ein behinderter Mensch abgebildet ist, eine absolute Seltenheit im Blätterwald Deutschlands.
DUMMY bezieht seine Daseinsberechtigung aus solchen lustvollen Erfahrungen, Grenzgebiete zu erforschen oder sich kopflos in die Klischees zu stürzen. Da wird sogar die reizende Redaktionspraktikantin kurzerhand zu ihren Sexualerfahrungen interviewt, weil sie im Cafégespräch ungewöhnlich deutlich machte, dass sie gerne mal mit einem schläft. So etwas ist eigentlich nichts, was man ohne spätere Reue publiziert. Der Text fand sich abgedruckt, bevor Tinder das Single- und Sex-Leben der Menschen, nun ja, revolutionierte.
Für mich symbolisiert dieses Magazin die Magie einer Zeitschriftenvielfalt in diesem Land, die sich womöglich so nur in Deutschland und einer Handvoll anderer Nationen finden lässt.
Epilog
Lesen lässt sich DUMMY neben vielen Hunderten anderen Magazinen auch am Bildschirm, in einer App namens „Readly“. Apple hatte ja mit dem Einschwören seines iPads versucht, den Zeitschriften und Zeitungsmarkt in die digitale Moderne hinüber zu holen (freilich mit dem nicht ganz uneigennützigen Hintergedanken, den Verlagen für die gestiegene Präsenz einen kräftigen Obolus abzuzwacken). So richtig gelang dies nicht - und das ist auch eine gute Nachricht für die großen und kleinen Publikationsorgane, die so vielleicht noch aufholen können, was sie in den letzten Jahren verschlafen haben.
Konkurrenz durch andere Medien, Anzeigenschwund und neue Lesegewohnheiten mögen eine Rolle spielen, dass alles im Wandel bleibt (aber wer mit Buchstaben jongliert, der kennt keine stillstehende Welt und wohl auch kein risikoloses Publizieren). Sieht man sich die technische Perfektion und die simple, aber zielführende Präsentation bei „Readly“ an, dann muss einem um die Lesekultur nicht bange sein. Was die Musikindustrie lange beschäftigte, nun aber mit neuen Gewinnmöglichkeiten versorgt, ist längst auch hier angekommen. Verlage erhalten Mikrosummen für das Lesen ihrer Produkte und zugleich, was wohl noch wesentlich attraktiver ist als der noch überschaubare Zuschuss aus diesem Digitalumfeld, Daten darüber, was ihre Leser wirklich interessiert.
Ich habe als Kind immer davon geträumt, im Zeitschriftenhandel zu arbeiten, nicht weil die Arbeit dort so spannend wäre, sondern weil so die Möglichkeit bestanden hätte, jederzeit das zu lesen, was mich interessiert. Noch heute ist das ziellose Stöbern in einem Kiosk, am liebsten natürlich im Bahnhof, wo nicht ein Verkäufer ständig mit Argusaugen überwacht, ob ich Eselsohren in die sorgfältig in die Auslagen drapierten Exemplare knicke, eines meiner größten Vergnügen. Es ist schwer, dann nichts zu entdecken. Mal ein besonderes Cover, mal ein Artikel, der mich dazu bringt eine Zeitschrift übers Skifahren zu kaufen. Insofern ist die Vorstellung, mit nur einer Wischbewegung auf einem Handy unzählige Magazine lesen zu können - vor allem solche, die nicht in Deutschland erscheinen! - geradezu paradiesisch. Vor den im Vergleich zum Gegenwert lächerlichen Abogebühren und der Möglichkeit, jederzeit zu kündigen, würden sich wohl auch meine Eltern überzeugen lassen.