Extrablatt

Tageblätter in Zeiten des i-Pads

Wahrscheinlich wird es in 50 Jahren keine Tageszeitung mehr geben. Oder wenn es sie noch geben wird, dann wird sie als nette Dreingabe für Nostalgiker verkauft. 

Schon klar, es ist ganz wunderbar über das i-Pad und alle seine Gespielinnen zu streicheln, um den täglichen Ereignissen hinterher zu spüren. Es fühlt sich gut an, nicht ständig zum Kiosk rennen zu müssen, um informiert zu sein oder kein regendurchnässtes Zeitungspapier vor der Tür aufsammeln zu müssen. Jede unverstandene Textzeile sofort eigenhändig zu überprüfen oder jeden interessanten Inhalt mit Bildern, Klängen und so weiter aufgewertet zu bekommen ist wirklich fantastisch. Aber: Wie kann so ein hübsches elektronisches Gerät den erotischen Kitzel der täglichen Zeitungslektüre ersetzen? Allein der bittersüße Lesezwang, der unweigerlich Spuren hinterlässt, ist gleichzeitig Genuss und Qual. Zerknittert, auseinandergenommen, gefaltet und gewalzt verschwindet das gelesene Blatt im Papierkorb.
  
Der Stolz, der sich einstellt, das tägliche papierne Desaster überwunden, ja geradezu niedergerungen zu haben, ist jede Minute Lesezeit wert. 

i-Pads und i-Phones, die jederzeit zur abonnierten digitalen Zeitungslektüre die aufgefrischten Nachrichten des Tages liefern können, bieten diesen Genuss, aber auch die Qual nicht. Die Nachrichten können niemals durchgelesen werden. Sie finden ja kein Ende. Wer die Möglichkeit hat, den Nachrichten von gestern noch die Nachrichten der letzten Minuten anzufügen, der wird sie auch nutzen. Ständig rauschen neue Ereignisse über das Laufband der Geschichte, alle erwähnenswert – alle jederzeit abrufbar. 

Die Qual, der täglichen Zeitungslektüre nicht nachgekommen zu sein, kann der digitale Leser nicht entwickeln, es sei denn er ist ein Psychotiker. Nein, irgendwann muss einfach Schluss sein mit Politik, Wirtschaft, Kultur und Boulevard. Da wird schon aus diesem Grund kein Leidensdruck mehr aufgebaut. Das schlechte Gewissen, sich nur den Leitartikeln und dem Kreuzworträtsel gewidmet zu haben – anstatt den großen Rundblick zu wagen – wird einfach ersetzt, weil der Bildschirmleser viel stärker selektiert. Dazu kann er sich die interessantesten Themen abonnieren, um immer nur das zu lesen, was ihm spannend erscheint. Wenn das i-Pad ausgeschaltet ist, dann mahnt es nicht zur Zeitungslektüre. Eine noch nicht aufgeschlagene Zeitung zwingt zur Lektüre. Eine Zeitung will gelesen werden, unbedingt. 

Und mal ehrlich, wie kann man den simplen Handstreich über den Plasmabildschirm überhaupt mit dem Zauber vergleichen, eine Zeitung auseinanderzunehmen, sich an ihrem Papiergeruch zu delektieren, sie in die Breite zu zerren, nur um sie dann, ganz sorgfältig, in der U-Bahn auch mit äußerstem Fingerspitzengefühl, zurecht zu falten. Jedes Eselsohr eine Reliquie der geistigen Eroberung. 

Wie viele Falttechniken gibt es? 
So viele wie es Leser gibt. Jeder zerklüftet das Blatt anders. Mancher benötigt drei Flugzeugsitzplätze, ein anderer faltet das Papier in kleine Rechtecke. Der i-Pad-Leser braucht keine Angst vor Unordnung zu haben. Was er sucht, kann er bequem in die dafür vorgegebene Leiste eintragen, schwups hat er auch schon den ersehnten Artikel auf dem Schirm – inklusive aller Querverweise auf das Thema. Digitale Ordnung ist mehr wert als analoge. Denn was die Herausgeber peinlich genau in die Gazette gehoben haben, um zu informieren, zu bewegen und zu inspirieren, muss vom Leser ja auch erst einmal sortiert werden. Was ist wichtig? Was lohnt die Lektüre, was eher nicht? 

Natürlich ist es möglich, dass der Zeitungsleser etwas verpasst, das ihn interessiert. Vielleicht steht was er im Wirtschaftsteil vermutet diesmal im Feuilleton, nur ganz anders betrachtet. Auf den Rechnern für unterwegs ist schon alles bedarfsgerecht vorbereitet. Man kann es auch in die digitale Wolke zwängen, wenn es einmal wieder gebraucht wird. Aber ersetzt das den neckischen Spaß, gelungene Artikel auszuschneiden, sie akribisch mit Datum zu versehen, um sie dann entweder zu archivieren oder einem guten Freund zur Lektüre anzubieten? 

Natürlich kann ich einen Online-Artikel per Mail versenden. Doch ist das nicht etwas völlig anderes? Die Freude, ein vielleicht schon vergilbtes, aus der Zeitung in der Hetze herausgerissenes Stück Papier in den Händen zu halten, das neue Einsichten schenkt, ist weitaus größer, als einfach mal schnell über eine viel zu lange Online-Notiz hinwegzulesen. Überhaupt, was ist der Coolness-Faktor des smarten Geräts gegenüber dem intellektuellen Nimbus des Professors, der jeden Morgen die noch eingerollte Tageszeitung unter dem Arm spazieren trägt? Hier überträgt sich der Wert des gelesenen Produkts adäquat auf seinen Benutzer, denn er könnte ja auch etwas anderes lesen. 

Was ist das zarte Sirren der sich warm laufenden digitalen Schiefertafel gegenüber dem rauschenden Falten der Zeitung? 

Nach der Lektüre des Online-Tageblatts ist nur der Bildschirm des i-Pads durch den kreisend-ungeduldigen Fingerabdruck befleckt. Die Zeitung hinterlässt hingegen ihre Spuren auf den Zeigefingern, die nervös die Nachrichten abgetastet haben: Sie sind nun rußschwarz. 

Selbst die Werbung ist auf dem Papier viel schöner. Ätzende Kurzfilmchen flimmern über das i-Pad, Werbebanner versperren die Sicht auf das Wesentliche. Eigentlich kann man über Maschinen keine augenfreundliche Werbung produzieren. Sie stört immer. In einer Zeitung mag eine Kurzanzeige für einen Moment behelligen. Eine großflächige, seitenstarke Anzeige hingegen – intelligent geschrieben und klug fotografiert – kann tagelang für Aufsehen sorgen. 

Das i-Pad hat keine Haltung. Es mag schön anzusehen sein, kann blitzschnell und scharf allerlei Bilder auf den Schirm zaubern, aber es ist eines sicher nicht: politisch. Auf das i-Pad wird nur eine Meinung projiziert, mehr nicht. Seine Entwickler stehen den über ihr Gerät transportierten Inhalten völlig neutral und meinungslos gegenüber – es sei denn sie verstoßen gegen ihre Regeln. Politisch Radikales bleibt versperrt, Nacktheit wird nur in Ausnahmefällen erlaubt. Auch wenn große Verlage ihre Produkte über das i-Pad vertreiben, die Aufmerksamkeit gilt nur dem Gerät und in diesem Fall ihrem Erfinder. Dabei ist die Haltung, die es vermittelt, eine falsche. 

Eine Maschine ist nicht klug, moralisch integer oder inspirierend. Sie ist nicht einmal schön. Das ist ein Attribut, das man ihrem Design zuschreibt. Wichtig sind immer noch die Inhalte. Sie werden von Menschen in mühevoller Kleinarbeit hergestellt und mit der Hoffnung versehen, sie mögen nicht nur überflogen und leichtfertig heruntergeschluckt, sondern nachträglich verarbeitet und weitergedacht werden. 

Die Kunst des Zeitungsmachens ist es nicht, Informationen zu liefern. Dafür zahlt der Abonnent auch nicht. Vielmehr wollen Zeitungen Haltung zeigen, eine Wertevorstellung vermitteln, die für Orientierung sorgt. Sie setzen auf Meinungsvielfalt bei gleichzeitiger gedanklicher Kontinuität. Nachrichtenmedien, die wöchentlich oder monatlich erscheinen, können das nur eingeschränkt. Nachrichtenmedien, die sekündlich Stoff produzieren müssen, sind dazu überhaupt nicht mehr in der Lage. Das sind Gründe für die Wertigkeit der Tageszeitung. 

Vielleicht irrt man auch, wenn man glaubt, bei einem Zeitungsabonnement würde man einen etwas günstigeren Preis für die morgendliche Belieferung der Zeitung bezahlen. Eigentlich hinterlegt man mit dieser Zahlung eine Spende für den stellvertretenden Kampf einer kleinen regionalen oder großen überregionalen Kaste, die in einer unübersichtlich gewordenen Welt versucht, Ordnung zu schaffen und vor allem Orientierung zu bieten. Nicht fürs Einzelexemplar entrichtet man einen Obolus. Die gibt es sozusagen als Geschenk für die großzügige Unterstützung der Sache obendrein. 

Seit Jahren sinken bei den großen und wichtigsten Zeitungen weltweit Auflagen und – wirtschaftlich noch bedeutender – die Anzeigenverkäufe. Journalisten können nicht mehr zu den gleichen Bedingungen angestellt und ausgebildet werden. Man muss sich hier nichts vormachen: Dies bedroht über kurz oder lang die Recherchefreiheit und die Souverinität des Journalismus. 

Natürlich gibt es finanzielle Modelle, die dieses Dilemma auffangen können, aber die grundlegende Richtung, wie Nachrichten empfangen werden – wie Meinungen produziert und Ideen lanciert werden – hat sich verändert. Nichts spricht dagegen, dass die großen Verlage ihre täglichen Produkte mit einer Online-Ausgabe erweitern. Sie selbst finanzieren dieses Risiko und können sich bei Bedarf über den Gewinn freuen. Vertreiben Sie aber ihr täglich Brot (nur noch) mit dem i-Pad, dann können sie vielleicht auf eine andere Leserschaft zielen, die dem täglichen Papierwust skeptisch gegenübersteht, aber sie müssen dann nicht nur ihren Gewinn mit dem Erfinder der Lese- und Bildermaschine teilen, sondern auch das Prestige. Außerdem wäre dann ein Kulturgut bedroht, das seit vielen Jahrzehnten einen großen Teil zur bürgerlichen Identität beiträgt.

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