Ich packe meine Bibliothek aus

Ich packe meine Bibliothek aus. Noch sind sie, jeder Ordnung enthoben, in Kisten eingemummt. Wenn ich umziehe, dann schleppe ich vor allem Bücher. Liebgewonnenes, Unverzichtbares, Oftgelesenes, Ungelesenes, Schund und vieles mehr, das ich in all den Jahren angesammelt habe. Es ist viel mehr als ich je lesen könnte, und wenn ich das Sammelsurium an gedruckten Worten in seiner unpersönlichen, fein säuberlich in Kartons verpackten Staffelei betrachte, dann kann ich mir kaum vorstellen, überhaupt so viele Erinnerungen und Bilder daraus entnommen zu haben.

Angefangen hat es mit Comic-Heften. Meine Mutter brachte mir stets die Micky Maus mit, deren Inhalt ich regelrecht verschlang. Wenn ich mich so recht zurückerinnere, musste man mir schon ein Buch schenken, damit ich es in die Hand nahm. Kalle Blomquist war dann mein erster Begleiter; zuvor hatte mich aber schon Micky Maus, der nebenberuflich, wie man weiß, Detektiv ist, in das Sujet eingeführt. So bündelte ich also die Disneycomics, sammelte Limit- Hefte (Neben Comics fand man hier Berichte über Wrestling, Horrorfilme, Tattoos, allerhand ekliges Getier oder NASCAR-Rennen. Man wollte wohl junge Männer locken. Ich hatte aber noch nicht einmal Pickel, als ich’s las), Lustige Taschenbücher und Donald-Duck-Magazine.
Das Lustige Taschenbuch vermittelte mir recht schmerzhaft den ersten Eindruck davon, was eine Bibliothek ist bzw. was es heißt, wenn man nicht schnell genug ist beim Sammeln. Auf den Buchrücken der bunten Bildchenansammlungen befanden sich nämlich immer Fragmente eines sich mit wachsender Anzahl ausdehnenden und dann komplettierenden Panoramas von Figuren aus dem Universum des Mauserfinders. Neidisch war ich, als ich komplette Jahrgänge in anderen Kinderzimmern erspähte, gar nicht von jenen zusammengekauft, die es lasen, sondern noch von der Elterngeneration vor dem Staub im Keller bewahrt.

Ich ordne meine Schätze nach verschiedenen Kriterien. Verlag, Genre, Erscheinungsjahr, Größe, Beschaffenheit. Alles findet seinen Platz. Längst haben sich Unterkategorien gebildet, die ihren eigenen Raum für sich beanspruchen. Was mit Comic-Heften angefangen hat, ist nun doch um einiges vielfältiger geworden. Irgendwann, obwohl ich schon sehr früh zu lesen in der Lage war, habe ich mich dann auch an Bücher herangewagt. Damit meine ich: Ich habe sie angefangen zu sammeln. Bücher liest man erst, wenn man sie zu seinem Eigentum macht, sie ausstellt, fasziniert beobachtet, in Gedanken über ihren Inhalt schwelgt, wenn man sie auch nur kurz in die Hand nimmt, um darin zu blättern. Vorher ist es nur nervöses Schwanken über die Buchstaben. Ich konnte jene nie verstehen, die sich Massen an Büchern in der Bibliothek ausgeliehen haben. Nur wenige Tage Zeit, um zu lesen und dann musste das vielleicht geliebte, zumindest aber hart erkämpfte Werk gleich wieder zurückgegeben werden. So verlor sich doch jede Bindung an das, was doch Teil von mir werden könnte.

Die Sammelleidenschaft wird von einigen Verlagen ganz bewusst bedient. So gab es in meiner Jugend vollständige Kinderlexika, die für ihren Einsatz in Ringordnern als lose Blattsammlung erschienen und das Kompendium von Woche zu Woche erweiterten. Ich hatte einen teuflischen Spaß beim Einsortieren (so wie ich auch heute noch viel Zeit damit verbringe, das Zeugs aus den Kisten möglichst penibel, wieder erkennbar, aber vor allem wieder erfühlbar anzuordnen), gelesen habe ich aber eigentlich wenig darin. Ein Wort zu den erhobenen Zeigefingern: Ich habe stets immer behauptet, dass sich mein ganzes Wissen aus der Micky Maus speist. Das stimmt tatsächlich. Wer die fulminanten Übersetzungen der Barks-Comics von Erika Fuchs liest, der wird mir schon allein auf der sprachlichen Ebene zustimmen. Zudem gab es ja das Schlaue Buch der Gebrüder Tick, Trick und Track. So etwas wie ein unendlicher Wissensschatz, also ein Wikipedia in Buchform, das sich der Ehapa-Verlag erdreistete, in Kleinstform und mit Sammelkärtchen von dünnem, eher symbolischen Inhalt nachzubasteln. Ich hatte mir einen großen, schweren Wälzer erhofft, aber nicht ein Pappbüchlein zum Zusammenbauen erwartet. Eine erste Lektion im Umgang mit den Autoritäten der Wissensvermittlung. Der Spruch seinerzeit war trotzdem nett: Das Schlaue Buch ist schlauer, jetzt sind die Lehrer sauer. Toll war indes, dass in den Comics ja vor allem die praktischen Dinge (z.B. wie man mit einer Lupe und Sonnenlicht Holz zum Brennen bringt) als Wissensschatz postuliert wurden. Das gutbürgerliche Allgemeinwissen wurde zudem so spielerisch in die Handlung mit einbezogen, dass ein Schmunzeln über den Wiedererkennungswert im Schulunterricht durchaus zu den stählenden Erfahrungen meiner Kindheit zu zählen ist. Es lohnte sich also diese Käseheftchen zu stapeln.

Meine Eltern haben einige Bücher, aber nicht viele. Ich habe mich oft dem Angebot gewidmet, dessen Verführungs- oder Abstoßungspotenzial ja auch seinen Teil zu meiner eigenen Jagd nach Behaltenswerten Kulturgütern beigetragen hat. Mein Vater hat drei Bücherschränke, und als ich groß genug war, die verstaubten Wälzer auch zu erreichen, nahm ich mir die Leseerfahrungen meines Vaters vor. Einmal waren dort die Geschichtsbände und Chroniken. Dickbauchige Schinken, die jedes Staubkorn der Vergangenheit zu filtern schienen. Es lohnt sich immer, so etwas im Regal stehen zu haben. Man kann durch die Zeiten schwelgen. Von den Zeitläufen versteht man dadurch nicht unbedingt mehr. Dann waren dort immer noch Broschüren und Reiseführer. Ganze Schrankreihen mit Städte- und Ländernamen bestückt. Denen habe ich mein Interesse verweigert. Ein paar Zentimeter höher rangieren Romane und Biographien. Von Helmut Schmidt bis Konsalik. Der fast schon fetischistische Drang meines Vaters, die Vergangenheit auch in der Schrift lebendig werden zu lassen, ist hier eindrucksvoll ausgestellt. Alles dreht sich um Historie. Einiges Satirisches findet sich aber auch darunter und ein wenig Erotisches dürfte ebenso zu meiner Allgemeinbildung beigetragen haben.

Meine Mutter konnte mir nie eine Bibliothek bieten. Sie hat einige Bücher, doch sie werden nicht präsentiert oder durch eine signifikante Anordnung aufgehübscht. Sie stehen einfach so rum. Vielleicht begehren Frauen keine Bücher, sie lesen sie nur. Von Simone De Bouvoir bis Daphne Du Maurier hat meine Mutter alles. Dazu noch Psychologisches und noch mehr Pädagogisches. Eingeheimst habe ich eine Version des Kamasutras als Taschenbuch (Wenig empfehlenswert! Wenn man nicht ohnehin von den Verrenkeleien enttäuscht ist, so lohnt doch für die Bildchen nur ein richtiger Hardcoverband) und Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes. Auch von meinem Vater habe ich so einiges mitgehen lassen. Einen Helmut Schmidt Band, Weggefährten, horte ich immer noch. Bibliotheken leben auch von Leihgaben. Meine umso mehr.

Ach ja, ich glaube eine Bibliothek ist zunächst einmal auch die geheime Ansammlung von Wissen als Macht gegenüber jenen, die sagen, was wir lesen sollen. Meine Bücher kann mir niemand nehmen, ihr Wissen, ihre Geschichten sind Teil von mir. So entstand ganz zufällig und aus reiner Neugier eine erotische Bibliothek mit Bedenkenswertem aus den Privatarchiven meiner Familie. Mit Empfehlungen von Freunden und so einigen klugen Autoren ausgestattet, versuchte ich mir, noch ganz unschuldig, einen Überblick zu verschaffen. Als ich damit begann, war der Buchmarkt noch nicht so sehr übersättigt mit Sexratgebern, die ja allesamt nur Begleiter durch die koitale Ödnis sein wollen. Mir gefielen aber vor allem die großen Studien: Kinsey, Masters and Johnson, Was sie schon immer über Sex wissen wollten, aber nie zu fragen wagten. Mein Großvater war mir in diesen Dingen wirklich behilflich. Manch erotischer Bildband ist auch dazu gekommen, wobei sich das Interesse für derartige Fotografie von der Unzufriedenheit über die eigenartig kühle, überstilisierte Playboy-Imago-Maschinerie speiste, die aus jedem weiblichen Körper eine mit Regenwasser benetzte Salzsäule formt und Männerleiber, vielleicht in laokoonscher Tradition, zu Astralkörpern aufpumpt. Eine erotische Bibliothek findet aber nie einen Abschluss, denn man kann zu diesem Thema nie zu wenig Literatur anstauen.

Als es losging mit dem Studium, stellte ich mir die Königsfrage: Welche Bücher werde ich mitnehmen? Welche sind mir so sehr ans Herz gewachsen, dass ich sie jeden Tag benötige, und sei es auch nur für einen flüchtigen Blick auf den Buchrücken. Einige Kafka-Bände (noch die alten, nicht-kritischen Ausgaben), Edward Hopper, Brockhaus Psychologie, Erich Fromm, der National Geographic Foto-Guide, das Lexikon der Erotik (eine Rarität; herausgegeben von Ludwig Knoll und Gerhard Jaeckel) und so einiges mehr. Zwei schmale Boxen. Nun sind es drei riesige Kästen, die ein ganzes Regal zweimal füllen könnten. Ein Studium, zumal ein geisteswissenschaftliches, ist die Geburt einer Bibliothek, auch zu neuen, von Beginn an noch unbekannten Konditionen. Aus der einen Büchersammlung sind viele kleine Subbibliotheken hervorgegangen: eine Comic-Bibliothek (von der F.A.Z.), eine sich streckende, innig geliebte Peanuts-Werkausgabe (Alle Strips von 1950 an; jedes Jahr nur zwei Bände mit jeweils zwei kompilierten Jahren. Es wird mehr als eine Dekade dauern, bis alle Schätze zusammengetragen sind…), alles über Melancholie, alles von Büchner, Kafka, vieles von Freud, Arno Schmidt, Arthur Schnitzler, Hermann Hesse, Zweig, Joyce, Flaubert, Canetti, Poe, ohnehin Goethe, aber auch Wolfram von Eschenbach, Rousseau, Kant, Schopenhauer, Foucault, Sontag, viel Theoretisches, vor allem aber Lexika, Zitatenverzeichnisse und die wunderbar praktischen Junius-Bände. Dazu Tonnen von Zeitschriften. Ich weiß gar nicht, wie man das alles so unterbringen kann, dass es sichtbar ist. Frauen wünschen sich manchmal begehbare Kleiderschränke, ich wünsche mir eine begehbare Bibliothek.

Es lagern in den Pappbehältern nicht nur Bücher. Massig CDs und DVDs türmen sich vor meinen Augen. Ich kann mir ein Leben ohne sie nur sehr schwer vorstellen. (Weshalb meine Faszination für digitale Kopien eher gegen Null tendiert, denn wie hübsch ist schon eine mobile Festplatte mit Abermillionen von Daten, die alle in einem schwarzen, hässlichen Kasten verschwunden sind?) Auf eine einsame Insel müsste ich schon allein deshalb mit mehreren, bepackten Koffern reisen. Dabei achte ich ganz penibel auf Vollständigkeit. Es gibt nichts Schöneres, als einen unverstellten Blick in das Gesamtwerk eines Künstlers zu haben. So habe ich jeden David Lynch Film erworben, inklusive Eraserhead und Kurzfilmen, die nur als Import erhältlich sind. So bastle ich mir eine eigene Neil Young Discographie zusammen und so glänzt die kritische Ausgabe der Werke Kafkas, ein Schuber mit 15 Bänden, vor allem durch ihre Ganzheit.
Solche Anschaffungen sind fürs Leben gemacht.

Längst bin ich auch auf Antiquarisches umgestiegen. Jeder Sammler tut dies. Zunächst aber nicht, weil er die Wertigkeit der gedruckten Schmuckstücke schätzt, sondern weil Gelesenes nun mal billiger ist als frisch Gedrucktes. Der kundige Bibliothekar in eigener Sache weiß dann schon bald, welche Ramschläden er zu meiden, welche Flohmärkte er dringend zu besuchen und welche Einkaufszentren welche Schnäppchen zu bieten hat. Es gibt nichts Erquicklicheres als auf die Jagd nach Unbekanntem und lange Gewünschtem zu gehen. Auf Plattenbörsen oder Buchmessen findet man ganze Universen der Unterhaltung und des Wissens und verliert so einiges Geld, wenn man sich für ein R.E.M.-Bootleg von 1985 interessiert. Viel spannender als das, was man hat oder haben könnte, ist aber das, was man eigentlich zutiefst von sich weist und gerne als Lücke in der Sammlung bestehen lassen würde. Wie ungeheuer bedeutsam kann ein Künstler oder ein Denker werden, den man zunächst aus unerfindlichen Gründen, mögen es Vorurteile oder anderweitige Bedenken gewesen sein, gemieden hat, nun aber umso feierlicher umarmt. Das, was ich nicht habe, ist, was ich am meisten begehre. Und umso mehr gilt für eine wachen Geist, dass all das, was nicht auf dem Radar auftaucht, höchstspektakulär jeden Geist in Sekunden verformen kann. Nur so entstehen Initialzündungen.

Eine Sammlung sollte aber auch Verworfenes oder Abgelehntes enthalten. So bin ich der Musik Radioheads immer wieder herzlich abgeneigt, weil ich den depressiven Gestus kaum ertragen kann und deren avantgardistisch-verspieltes Experimentieren mit Klangstrukturen – obwohl zu Gunsten von Melodien – gar nicht jeden Tag hören will. Trotzdem oder gerade deswegen habe ich alle Platten in meinem Schrank stehen. Genauso verhält es sich mit Werken, die man beginnt zu bestaunen, die aber zunächst ermüden, langweilen oder abstoßen. Sie legt man weg, platziert sie aber nur umso deutlicher in der Vitrine, um von ihnen, vom schlechten Gewissen und von der boshaften Neugierde getragen und vom eigenen Ehrgeiz, dem Scheitern am Unverständlichen etwas entgegenzusetzen, angestrahlt zu werden. Joyce’ Ulysses lacht mich auf diese grimmige Art und Weise an. Schon jahrelang.

Die erste Erfahrung mit Bibliophilem machte ich bei meinem Stiefvater, Bernd. Er sammelte Bücher nicht aus ästhetischen Gründen, so wie ich das bei meiner Oma vorfand, die eine Reihe mit ganz hervorragend gestalteten Klassikern von Kleist bis Tolstoi ihr eigen nennt, sondern aus dem nicht zu stillenden Bedürfnis, den eigenen Horizont zu erweitern. Ein solcher Hang zur Erkenntnis widerspricht der Möglichkeit einer Bibliothek, denn es übersteigert die Kapazität einiger Regale, wenn neben umfassenden Atlanten, Notenbüchern und Märchen aus der Türkei noch hunderte Schallplatten lagern.

Mitunter blättert man sich durch das über Jahre erstandene Eigentum, ist hie und da von oft Gelesenem entzückt, entdeckt aber in einem Moment der nicht alltäglichen Aufmerksamkeit ein Buch, dessen Existenz im eigenen Bücherregal man sich nicht entsinnen kann, wirft einen flüchtigen Blick hinein, liest einige Zeilen, dann mehrere Seiten und verliert sich, nicht ohne über diesen Verlust der eigenen Kontrollfähigkeit heimlichen Stolz zu empfinden, im Dickicht des noch zu Erobernden.

Endlich ist die Bibliothek ausgepackt.







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