Onkel Walts Wunderland
Wir sollten nie vergessen, dass am Anfang eine Maus stand. Das sagte Walt Disney oft, um daran zu erinnern, dass seine (nicht ganz eigenständige) Erfindung von Micky Maus mit einem kleinen Schritt das Universum begründete, das er in wenigen Jahrzehnten mit Heerscharen von Künstlern und treuen Untergebenen erschuf.
Freilich sagte er das, als der charmante Nager bereits anfing, in Vergessenheit zu geraten. Schon die animatorische Herkulesleistung „Fantasia“ mit ihrer legendären Zauberlehrling-Episode diente vor allem dazu, die Maus wieder zurück ins Rampenlicht zu holen, nachdem die Walt Disney Company mit abendfüllenden, märchenhaften Zeichentrickfilmen das Kino mit einer Mischung aus amerikanisch-liberaler Romantik, Hyperemotionalisierung und moralischer Prägnanz verändert hatte, die Urszene des anthropomorphisierten Crazy-Creature-Slapsticks aber zu verdrängen begann.
Nicht erst nach Walt Disneys frühem Tod im Jahr 1966, nur elf Jahre nachdem der auch aus heutiger Sicht extrem risikoreiche Medien-Unternehmer und Impresario der nie wirklich erfüllten, aber stets drängenden Träume mit der Errichtung von Disneyland sein Lebenswerk mit einem geschickten Schachzug vor dem Verfall der popkulturellen Einflussverschiebungen bewahrte, müsste es eigentlich heißen: Wir sollten nie vergessen, dass am Anfang Disney stand.
Man kann die Bedeutung der Disney-Sphäre kaum überschätzen. Filme, Ideen, Lifestyle, Konsumbedürfnis und der Hang, einer seit den 20er-Jahren gespenstisch gleich gebliebenen und bis zur Perfektion konfektionierten Unterhaltungsform treu zu bleiben, wurde mehreren Generationen eingeprägt. All das wird bewusst als kulturelles Erbe an den Nachwuchs weitergereicht.
Eltern schwärmen ihren Kindern von der Disney-Magie vor, noch bevor diese sprechen können oder schenken ihnen Kuscheltiere vom „König der Löwen“ oder Bettwäsche von „Die Eiskönigin“, weil sie sich damit selbst an ihre Kindheit zurückerinnern. Mühelos könnte man nun ein ganzes Bouquet an Beispielen dafür finden, wie rabiat sich Disney als Wunschmaschine par excellence in die Gedanken der Menschen einschleicht und dort - Kulturwissenschaftler, Medienhistoriker und selbst Sexualtheoretiker beschäftigen sich intensiv damit - Verbindungen prägt und Sehnsüchte entwickeln lässt. Es ist ein Prinzip des radikalen Kulturimperialismus', der amerikanische Werte für im Grunde jede Kultur anschlussfähig macht und eine Verkitschung von Kunst zu einer eigenen Kunstform erhoben hat.
So viel zu den schon sehr lange vorgebrachten kritischen Stimmen, die den konservativen und restriktiven Walt Disney einst gar als Verführer deklarierten - in der polemischen Spitze sogar als einen Diktator der Imagination denunzierten.
Doch das ist natürlich auch gespiegelt lesbar: Disney, also nicht konkret der Namensgeber und auch nicht die Firma, die längst der mächtigste Unterhaltungsproduzent der Welt ist, sondern die zirzensische Schöpfung von Fantasien unter diesem wie Zuckerwatte schmeckenden Markenbegriff, schlüpfte in eine marktwirtschaftliche wie soziologisch-psychologisch verortbare Lücke und füllte sie mit Sinn, als die von Finanz- wie Gesundheitskrisen und natürlich zwei Weltkriegen erschütterten Gesellschaften hüben wie drüben ihren moralisch-sittlichen Kompass verloren hatten - als sie, ganz einfach gesagt, das Träumen verlernt hatten.
Es mag zunächst eine Schublade zu hoch gegriffen anmuten, aber der Disney-Strom von ethisch geschlossenem Entertainment, dessen erschütternder Sog gerade dadurch entsteht, dass sich diese rührige Manufaktur selbst enge Grenzen setzt, die nicht einmal der begabteste Zeichner oder Geschichtenerzähler zu überschreiten sich trauen würde, ist anzubinden an die großen Sittlichkeitserfindungen der Menschheit.
Gemeint sind die Entwicklung des gemeinsamen Gesangs, des Lesens und Schreibens, die gesellschaftliche Abschottung im Rahmen dessen, was wir heute Familie nennen, auch die moderne Neudefinition des Kindes als eines unschuldigen, sich entwickelnden Lebewesens, das noch in jugendlichen Jahren besonderen Schutz nötig hat. Disney vollendet gewissermaßen den feuchten Traum des Kapitalismus, selbst noch in den entferntesten Winkeln der infantilen Bedürfnisse eingreifen zu können.
Wenn die Entdeckung des Unbewussten, von Sigmund Freund noch als narzisstische Kränkung des Individuums postuliert, den Umgang mit Gefühlen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat, dann ist die Verfertigung eines von jeder Spiritualität entrückten magischen Bewusstseins, wie es sich mit Disney in die Köpfe der Menschen ergoss, also jene jederzeit aufgreifbaren Ressource, die als Ersatzrealität, als manchmal gar unheimliches Reales, stets einen Ausweg aus jeglicher psychologischer, längst auch gesellschaftspolitischer Ambivalenz zu weisen vermag, neben der Psychoanalyse und ihren Nachfolgern die andere große geniale Offenbarung, um der taumelnden Seele Halt zu bieten.
Junge Menschen auf der Suche nach einer bürgerlichen Existenz fassen diesen kaum durchschaubaren Komplex mit Worten zusammen, die dieser Disney-Ideologie entsprechen und ihn als Urheber der eigenen geistigen Konstitution erkenntlich machen, gleichzeitig aber einem Hilferuf gleichen, aus der Illusion befreit werden zu wollen: Disney hat mir unrealistische Vorstellungen von Liebe vermittelt.