Die Nacht singt ihre Lieder

Schriftsteller sind eitel, und auch wenn sie etwas anderes behaupten, sie empfinden sich stets im manchmal gar schmerzhaften Konkurrenzkampf mit anderen Autoren. Kritikern geht es nicht anders, sie loben die einen etwas zu wenig und verdammen die anderen etwas zu sehr. Oder andersherum, je nach Perspektive. 

Wenn man nicht die Vorstellung von der schleichenden Zersetzung bürgerlicher Hochkultur teilen will, dann ist die Ankündigung, wer alljährlich den Literaturnobelpreis bekommt, einer der wenigen Festtage für jene, die lesen, weil es für sie zum Leben dazugehört. Verlage und Buchhandlungen freuen sich sowieso, denn der oder die Gekrönte verkauft schlagartig so viel mehr, dass sich schon so ein goldener Herbst ankündigt. 

Dieses Jahr hat es den Norweger Jon Fosse getroffen. Ob es ein Glücksfall ist, den Preis zu erhalten, kommt auf den Charakter und auch das Alter der Ausgezeichneten an, vielleicht auch auf deren Geldkonto. Manche genießen still, andere hören auf zu schreiben oder wiederholen sich von diesem Moment an noch etwas zwanghafter. Bei Fosse muss muss man sich da wohl wenig Sorgen machen. Dem Vernehmen nach hat er sich schon länger auf diesen Moment vorbereitet. Auch wenn dies von einigem Selbstbewusstsein zeugt, er gilt eher als stiller, zurückhaltender Brüter. Fosses Schriften sind das, was man gerne minimalistisch nennt. Auch wenn das immer irgendwie wie ein Hilfsbegriff für einen reduzierten Stil anmutet, der in der Tradition großer Literatur weniger aufs Erzählen setzt als eben aufs Nachdenken übers Sein, auf Weltbetrachtung und (natürlich auch religiöse, mindestens aber mystische) Sinnsuche. Kein Wort zu viel also. Bedeutung als Erkenntnisweg. 

Wer will bei den Romanen und Theaterstücken von Fosse, einem unwidersprochen direkten Nachfolger Ibsens, der seinen Stil seit Jahrzehnten pflegt, schon widersprechen, dass sie Weltliteratur sind. Ich habe den Autor allein deshalb gelesen, weil er sich ungeschützt zur Melancholie bekennt. Er hat sogar einen Roman danach benannt, als sei es ein Gemälde von Munch. Natürlich ist sein großes Thema das Sterben, die nicht abzuweisende Anwesenheit der Angst, am direktesten vielleicht sogar in „Morgen und Abend“. 

Jahr für Jahr gibt es wieder Diskussionen darum, wer den Literaturnobelpreis wirklich verdient hat. Anders als in den anderen Kategorien, wo es etwa in Chemie oder in der Physik um die Adelung einiger Spitzenleistungen geht, schwingt in der Kultursektion immer auch ein Urteil über die anderen mit, die nicht mit einem Preis versehen werden. 

Philip Roth starb, bevor er in Stockholm sprechen durfte. Bob Dylan zierte sich, als er im Kulturkanon von der Überfigur des Rock ins Pantheon der Schriftgelehrten aufstieg. Jede Heiligsprechung ist eben auch eine Bürde. Und kein Jahr vergeht, da nicht darauf hingewiesen wird, wie wenig Frauen, homosexuelle und indigene Schreiber bedacht werden. Man wird der schwedischen Akademie allerdings schon länger kaum vorwerfen können, dass sie sich nicht im Innersten darum bemüht, hier neue Prioritäten zu setzen, auch wenn das Komitee einst von einem herben Fall sexueller Belästigung in den eigenen Reihen aufgewühlt wurde. Beim Friedensnobelpreis macht man es sich da wohl etwas leichter, manche werden gar mit einem Preis bedacht, nur weil man sich von ihnen wünscht, etwas zu ändern.

Es bleibt schwierig mit dem Literaturnobelpreis, der zwar etwas anachronistisch die singuläre Bedeutung der Literatur gegenüber den anderen Künsten hochhält, aber dem stets auch eine elitäre Anmutung anhaftet. Die Zeit der Romanpropheten, die mit ihren Geschichten die Welt ins rechte Licht rücken, ist allerdings schon länger vorbei, was immerhin die Gewürdigten der letzten Jahre - Louise Glück, Abdulrazak Gurnah, Annie Ernaux und nun Jon Fosse - durchaus mit ihrem komplexen, aber auch zum Teil introvertierten Werk für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts anschaulich symbolisieren. Mit Abstrichen bei Gurnah handelt es sich auch um kraftvolle Essayisten, die ihrem Schrift gewordenen Denken viel Platz einräumen. 

Fosses Romane und Theaterstücke sind recht offen (dunkle) Zonen der Begegnungen. Menschen begegnen einander, zufällig oder nicht. Sie begegnen Visionen, Befürchtungen, Verlusten. Geschildert werden immer auch Kämpfe, aber sie finden meist in den unruhigen Seelen der Protagonisten statt. Für mich brachte die Filmfassung seines Bühnenstücks „Die Nacht singt ihre Lieder“ eine solche vielleicht gar endgültige Begegnung. Ich besuchte sie mit M., und zu der Zeit pochten unsere beiden Herzen womöglich sehr füreinander, aber wir waren beide in anderen Händen. Wir hatten zwei Filme zur Auswahl. „Die Träumer“ von Bernardo Bertolucci. Und „Die Nacht singt ihre Lieder“, inszeniert von Romuald Karmakar. Auch wenn M. und mich die Hingabe zur Melancholie verband, so war die Wahl zwischen einem erotisch aufgeladenen Revolutionsdrama und einer Geschichte über eine Beziehung in der Krise mit tragischem Abschluss wahrscheinlich nicht klug. Wir warfen eine Münze. Fosse gewann. Und auch wenn wir danach noch Zeit miteinander hatten, wahrscheinlich war die trostlose Bebilderung des Fenstersturzes der Anfang davon, dass wir uns allmählich aus den Augen verloren. 

Ich frage mich oft genug, ob ich mich doch hätte bewusst für die „Träumer“ entscheiden sollen, statt dem Schicksal die Wahl zu überlassen.

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