Spurlos verschwunden
Die meisten meiner Phantasmen neigen sich dem Unheimlichen zu: aus großer Höhe fallen (oder flügellos fliegen können), von einem Unbekannten verfolgt werden (und, erst einmal geschnappt, im Nahkampf kein Gefühl in den Knochen zu haben, während ich zurückschlage) oder plötzlich zu verschwinden.
Erzählungen über Menschen, die von einem Moment auf den anderen wie vom Erdboden verschluckt erscheinen, berühren mich. Wurden sie entführt, gar getötet? Hatten sie einen Unfall - etwa der Fall in ein tiefes Loch während eines Waldspaziergangs? Haben sie ein neues Leben unter anderer Identität begonnen? Melden sie sich eines Tages vielleicht wieder; ein Anruf mitten in der Nacht? Warum hinterlassen sie keine Botschaft, wieso gibt es nicht einmal einen Hinweis auf ihren Weg hinfort?
Manchmal versteckt sich darin die Vorstellung von der Flucht aus einer Welt, die nicht mehr zu ertragen ist. Natürlich: auch eine Metapher für den letzten Handgriff.
Auszuschließen ist nicht, dass böse Mächte am Werk sind. Hexen! Die verschwundene Erika in Roald Dahls „Hexen hexen“. Eine Geschichte, die wohl niemanden wieder loslässt, der sie liest.
Nur eine Sequenz in der kongenialen Verfilmung des makaberen Kinderbuchs von Nicolas Roeg (der mit „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ – der erwachsenen, unerschrockenen Variation dieses Trauerarbeitsschaudergefechts – alles, aber wirklich alles, was man über das Unheimliche auszudrücken vermag, auf Zelluloid bannte), aber wirkungsvoller als hundert Horrorfilme.
Die kleine Erika, die Milch holen geht und nie wieder bei ihren Eltern ankommt, weil sie von einer Megäre aufgegriffen wird. Wer könnte die Trauer von Vater und Mutter löschen, die ihre Tochter verloren haben und nicht einmal wissen, was mit ihr geschehen ist? Doch dann entdeckt Papa etwas auf einem Gemälde in ihrer Wohnung. Ein altes Bauernhaus im Grünen, ein kleiner Bach, Gänse vor der Hütte. Und plötzlich ist dort in diesem stillen Landschaftsbild, ganz unscheinbar, ein Kindchen aufgetaucht. Erika! Das Kind ist nicht verschollen, es kehrt aber auch nie wieder in die gewohnte Realität zurück, es lebt nun in dieser Malerei, bewegt sich ins Haus und anderswohin, wird älter, reift zu einer schönen, aber traurig dreinschauenden Frau und blickt stets zurück. Bis Erika schließlich, alt und grau, endgültig verschwindet – verblasst.
Dieses stumme Grauen hat mich auf ewig für die Kraft des Kinos eingenommen. Die Pointe ist ja auch, dass es eigentlich die Erwachsenen, die Eltern sind, die sich ihre Hexen als märchenhafte Angsterfüllung erfinden, weil sie ständig um ihre Kleinen bangen – weil ab dem Moment, da der Nachwuchs die Augen aufschlägt, die Furcht nicht mehr weichen will, dass ihm etwas zustoßen könnte.
Weltlicher gibt es diesen Albtraum auf der Leinwand auch: „Spurlos verschwunden“, vom niederländischen Regisseur George Sluizer. Über einen Mann, der seine liebe Frau auf der Fahrt in den gemeinsamen Sommerurlaub an einer Autobahnraststätte aus den Augen verliert, die Suche nach ihr wider jede Vernunft einfach nicht aufgeben mag und schließlich von ihrem Entführer kontaktiert wird. Ist es eine Belohnung für seine Widerständigkeit? Oder eine biblische Bestrafung?
Es folgt ein dämonisches Angebot und eine – ja: unheimliche, von einem entsetzlichen Lachen umrissene Auflösung tief unter der Erde. Ein Bild wie von Sigmund Freud für seinen wuchtigen Aufsatz über das psychoanalytische Schlüsselthema erdacht, das der Filmemacher für seine Hollywood-Version der Erzählung natürlich zu einer unverhofften Wiedergeburt umdeutete.
Ich erkannte darin auch ein morbides Probehandeln meiner Kindheit wieder: Decke über den Kopf, alles dunkel, warten bis die Luft fast entwichen ist. Zurück ans Licht…