Du bist nicht mehr da, wie kann das sein?
Eben hast du noch am Fenster gestanden und hinaus geschaut. Du hast aus dem Zuhause, deinem Reich, in die Welt geblickt. Du hast streunende Katzen beobachtet und den Nachbarn beim Rasenmähen. Du hast die Straße im Blick gehabt, die kleine vor der Haustür, die große neben dem Balkon. Nichts entging dir. Während andere lauern müssen, warst du immer schon da, wenn etwas passiert ist.
Ich habe sehr viel von dir gelernt, wie man beobachtet. Du hättest das gewiss niemals eine Kunst genannt, es war dir eine Notwendigkeit, um DABEI zu sein.
Ich glaube, du hast davon auch nicht gelassen, wenn wir im Restaurant saßen. Das taten wir oft, viele hunderte Male. Hier besprachen wir die Kleinigkeiten des Lebens, manchmal das Ungemach in der Familie, viel öfter aber, was „die Politiker in Berlin“ so trieben. Du aßt oft das selbe und ich tat es dir nach, weil es wichtig ist, dass man Dinge immer wieder tut und sich nicht dafür schämt. In den letzten Jahren trankst du immer einen Cognac danach. Die Servierer brachten es dir stets mit einem Lächeln.
Früher, da haben wir viel telefoniert, weil du woanders warst. Es waren die schönsten, ungezwungensten Gespräche, weil wir uns von den wenigen Dingen erzählten, die in unserem Leben passierten. Später haben wir sehr viel gemeinsame Zeit gehabt. Für dich habe ich jeden Freitag frei gemacht und war schon am Donnerstagabend in deiner Wohnung von jedem Kummer befreit. Nirgendwo sonst habe ich mich je so geborgen fühlen dürfen. Nicht, weil du mich so sehr umsorgtest (auch wenn du es mit Liebe und dem Pflichtgefühl einer akribischen Hausfrau tatest, die du immer warst, ohne dies je einmal bedauert zu haben), sondern weil dein Raum offen für alles war, weil dein Quartier immer gleich blieb und sich nie veränderte. Sicher, es wurden ein paar Geräte getauscht, Glühbirnen müssen ja auch ausgewechselt werden, doch ich spielte schon als Bub mit Miniaturautos an dem Herd, der in deinen letzten Jahren schon einmal stotterte oder viel zu heiß wurde.
Ich rieche die Bettwäsche, spüre das dünne Laken auf meiner Haut, die von den vielen Nächten durchgedrückten, krächzenden Federn in dem kleinen Zimmer, das immer, wenn ich da war, mein wurde. Ich sehe mich, wie ich am Schreibtisch sitze, wo ich gelesen, gearbeitet, gelernt, Serien und Filme geguckt, Tagebuch und Briefe geschrieben habe. Ich spüre, wie ich den Schlüssel in deine Haustür stecke und welches hölzerne Geräusch es macht, wenn sie sich öffnet. Du hattest den Haustürschlüssel vor deiner Wohnung gut versteckt, damit ich auch hineinkommen konnte, falls du einmal schliefst. Ich bedauere, dass ich oft Abende weg war und du dir Sorgen machtest, dass ich alleine durch den dunklen Wald gehe.
Erst bei dir habe ich begonnen, Wälder zu durchschreiten. So oft sind wir zusammen spazieren gegangen. Das war, bis es dir nicht mehr möglich war, dein Antrieb.
Jeden Tag bist du laufen gewesen, und wenn es nur ein kleiner Gang bis zum Friedhof war.
Du gingst mit deinen Freundinnen, mit deinem Sohn, mit meiner Schwester, und immerzu mit mir. Dabei konnte ich vorlaufen und du hinter mir her gehen, wir konnten eine Stunde lang nicht miteinander reden, und ich fühlte mich dennoch unterwegs mit dir verbunden. Es ist wahr: Die Beziehung zwischen zwei Menschen bestimmt sich darin, wie gut sie gemeinsam schweigen können. Denn erst in der Stille beweist sich, was und wer zueinander gehört.
Du hast über solche Dinge nicht nachgedacht, so wie ich es fast zwanghaft tue. Dir waren andere Dinge wichtiger. Du hast nicht gehäkelt oder gestrickt (dafür jede Talkshow im Fernsehen gesehen, den Presseclub, Nachrichten fast rund um die Uhr), du hast jeden Morgen Kreuzworträtsel gelöst und bist immer zur selben Zeit schlafen gegangen und aufgestanden. Wenn ich noch länger aufblieb, konnte ich sehen, wie du irgendwann das Licht im Schlafzimmer löschtest. Manchmal bist du nachts aufgewacht mit einem bösen Traum und hast geschrien. Das hat mich jedes Mal sehr erschreckt.
Du erzähltest oft von dieser einen Nacht im Krieg, wo du mit einem Zug im Tunnel gefangen warst. Er befindet sich auf der Strecke zu dir, ich habe ihn so oft mit Bangen ertragen, weil er so tief ist und auf meine Ohren drückt. Früher sind wir häufig gemeinsam Zug gefahren. Du durftest ja, als Frau eines Bahnmenschen, jederzeit fahren. Sogar beliebig in der ersten Klasse. Weil es mir bei dir so gut ging, bin ich schon sehr früh zu dir gefahren, ohne Begleitung, ohne Angst vor dem Umsteigen. Diesen Mut konnte ich nicht überall beweisen.
Du hast mir gezeigt, wie es ist, einsam zu sein, ohne sich verlassen zu fühlen. Darin warst du eine stille Meisterin. Viel zu früh musstest du damit leben, aber du hast dich nie beklagt. Du hast das beste daraus gemacht. Du hast dein Heim zu deiner Fabrik gemacht. Jedes Rädchen darin musste durch dich bewegt werden, du musstest es im Griff haben, sonst ging es dir nicht gut. Heute wird das Hausfrauendasein als Antiquiertheit belächelt. Du hast mir gezeigt, wie viel Arbeit und Verständnis und Ruhe dafür nötig ist.
Du hast dich vielleicht auch in diesem Kreislauf der geordneten Verrichtungen eingerichtet, weil du es aufgrund deiner Lebenskrankheit musstest. Du sprachst so viel darüber, es bestimmte deinen Tagesablauf. Bluttröpfchen. Werte vom Arzt, die du versuchtest zu drücken. Und wie stolz du warst, als es gelang. Ich kennen keinen Menschen, der so diszipliniert aß und sich bewegte – weswegen du auch sehr gelitten hast, als das nicht mehr möglich war.
Ich muss lachen, wenn ich mich daran erinnere, wie du von Spaghetti (Mirácoli) schwärmtest. Dieses Funkeln in deinen Augen, und dann geriet dir die Tomatensauce immer viel zu dünn, wohl, weil es dir eigentlich nur um die Nudeln ging.
Du hast dich an Wochenende stundenlang in die Küche gestellt und zubereitet. Wenn ich von der Akademie kam, hast du immer gefragt, wie es mir erging. Das Essen hattest du schon vorbereitet, ich musste nie darum bitten. Du wusstest, wie man das macht mit den konsequenten Mahlzeiten. Dass es nicht um Leidenschaft geht beim Kochen, sondern in erster Linie um das Zubereiten von Dingen. Dein Möhrensalat mit Essig und Öl. Dein Spargel mit Vinaigrette. Dein Rosenkohleintopf mit Würstchen. Dein Reibekuchen ohne Zucker und Apfelmus. Danach oft ein Stück Bitterschokolade.
Wenn ich als Kind bei dir gebadet habe, dann sagtest du stets: „Aber nicht so stark aufdrehen.“ Das Laute und Hochtemperierte war dir fremd. Es durfte nichts Rauschen, es sollte fließen. Ich bewundere, wie du mit anderen Menschen umgingst, wie du dir ein Netz aus Freunden, Nachbarn, Bekannten, Wohlgesinnten, Hilfsarbeitern und Ärzten spanntest, ohne dass es danach aussah, anstrengend zu sein. Dabei nanntest du dich immer einen scheuen Menschen.
Viele, die dir etwas bedeuteten, die dich auch auf Trab hielten, wie man so schön sagt (auch wenn das eigentlich despektierlich ist), verließen dich frühzeitig, das war nicht einfach für dich. Auch darüber hast du nie ein klagendes Wort verloren. Doch über Alltägliches, über die Hindernisse, die sich dir vor den täglichen Aufgaben aufbauten, hast du - ja: gemeckert. Wer nicht die Regeln einhielt, für den hattest du kaum freundliche Worte übrig. Einmal gefällte Urteile konntest du selten abgelegen, selbst wenn man dich vom Gegenteil überzeugen wollte. Manche nennen das Sturheit, andere Rückgrat. Dir waren solche Kategorien immer egal.
Dafür wusstest du wie kein anderer Mensch, den ich kenne, dass es auch einmal genug sein kann mit den Seelengrabereien. Sich von der Tristesse für einen Moment befreien, das Elend diskutieren. Aber dann auch wieder von etwas anderem sprechen. Über Helmut Schmidt, die irgendwann zur Gewohnheit gewordenen Stiche ins Auge (Makula sagtest du, und du konntest mir minutenlang von den freundlichen Schwestern erzählen und den in der Praxis wartenden Patienten), Äpfel und Birnen im Bio-Markt, den unerzogenen Hund in der Kellerwohnung, den Cousin, den wir einmal auf der Straße trafen und den du begrüßtest, als wäre es der Milchmann und nicht ein Verwandter.
Du warst dir immer im Klaren, dass du von Natur aus ängstlich bist. Aber wie alle Menschen, bei denen das so ist, konntest du bei anderen schätzen, wenn sie dich über deine natürlichen Grenzen führten.
Deine Nachbarin wurde dir zu einem Lebensmenschen. Sie war auch für mich da. Sie zeigte mir Asterix und plauderte mit mir über Bergman. Sie hatte in ihrem Wohnzimmer ein scharfes Schwert aus dem 17. Jahrhundert und war stolz auf blaues Blut in ihren Adern. Ihr Mann, ein Ungar, lehrte Soziologie. Sein Held war Erich Fromm. Er wurde auch mein Held. Du und ich, wir haben ertragen müssen, dass deine Freundin weit weg von der Heimat starb und wir haben miterlebt, wie ihr Mann eines Abends einfach umkippte. Auch er ein zurückgezogener Freigeist, aber eher kein Feingeist. Um dich herum, so glaube ich, war vieles grob. Es hat dich nicht bewegt, solange du dein Programm verfolgen konntest.
Du warst zwar oft nervös – wenn dir etwas aus der Hand fiel, dann konnte dich das schon einmal Nerven kosten –, aber du genügtest dir selbst, und wer kann das so schon von sich behaupten. Du warst immer großzügig, nie sprachst du bang über Geld. Du warst die letzte Kundin, die noch am Bankschalter Scheine einholte. Du verschicktest den Sportteil der Zeitung mit der Post an deinen Sohn; die Briefmarke hattest du natürlich immer parat.
Auch wenn es mir nie schwerfiel, anderen Geschenke zu machen, habe ich doch das Gefühl, dass es mir über die viele Zeit, die wir gemeinsam hatten, die sich nie so anfühlte, als wäre sie in einem Jahr weniger und in machen mehr (so wie es wirklich war), nicht gelang, dir etwas zu überreichen, das meine Zuneigung zu dir und meine Wertschätzung für deine Art wirklich ausdrücken konnte. Diese Traurigkeit bleibt neben der Gewissheit, dass wir nun nicht mehr gemeinsam spazieren und essen gehen können.