Warum läuft Tim K. Amok?

Diesen (nun leicht modifizierten) Text habe ich im Jahr 2009 geschrieben, unmittelbar nach dem Amoklauf von Winnenden. Damals war ich der Überzeugung, dass das Phänomen der Schulschießereien vielleicht irgendwann aus den Mediatheken verschwunden sein wird. Aber das war ein Irrtum, wie leider gerade erst der Massenmord an einer Grundschule in Nashville zeigte. Gründe für diese Wahnsinnstaten zu finden, ist ein schwieriges Unterfangen. Es gibt aber einen Film, der dem Komplex mit unheimlicher Präzision nachspürt. 


Die vielleicht ergiebigste Auseinandersetzung mit dem grausig-widersprüchlichen Ereignisfeld Amoklauf an Schulen hat Gus Van Sant mit dem Film „Elephantin Anlehnung an das Blutvergießen an der Columbine High School betrieben. In diesem geschichtslosen Drama, in dem die Protagonisten auftauchen und verschwinden bzw. erschossen werden, ohne dass man sie als Personen auch nur annähernd kennenlernen könnte, wird niemals klar, warum oder wieso irgendetwas passiert.

Es bleibt unverständlich, warum gerade das immer wieder gehänselte Mädchen gerichtet und warum ein anderer, schüchterner Junge, der gleich daneben steht, verschont wird. Van Sants Film ist ein Experiment einer absoluten Anonymisierung der Darstellbarkeit.

Es ist der Versuch, das destruktive Ereignis des Amoklaufs durch eine Art Exorzismus der von zwanghaften Interpretationen besessenen medialen Betrachtung zu veranschaulichen. Keine Erklärungen. Nirgends.

„Elephant“ ist als Erzählexperiment aber letztendlich doch nicht ganz gelungen, weil er sich noch in den letzten Minuten in die Täter hineinzudenken versucht und dadurch eine Deutung zulässt. So lassen die Bilder zärtlicher Berührungen der späteren Attentäter unter der Dusche den Schluss zu, dass vielleicht Angst vor der Auslebung eigener (Homo-)Sexualität eine Erklärung für den Gewaltausbruch sein könnte. (Das Interesse des Regisseurs für ähnliche Sujets homosexueller Identitätsfindung von „Malanoche“ bis „Milk“ ist allerdings bekannt.)

Das Scheitern des Films ist aber in Wahrheit ein Gewinn – weil dadurch die entscheidende Frage nach der Interpretationslast gestellt wird. Wie hätte Van Sant „Elephantanders verwirklichen können? Der Regisseur hätte nur Einblicke in die Lebenswelten seiner späteren Opfer abfilmen können und dann als letzten Akt die aus dem Nichts kommenden Attentäter und ihre fatale Mordlust dokumentarisch und nüchtern darstellen können. Dann wären die Täter nichts anderes als stumme Phantome aus dem Gruselkabinett des Horrorfilms. Schattenspiele des Unbewussten.

Van Sant hätte auch ganz ruhig und kommentarlos, vielleicht ebenfalls dokumentarisch, die letzten Stunden der Täter filmen können, doch welche Bedeutung hätte dann die Tat für die Opfer und ihre Angehörigen? Die Einseitigkeit der Darstellung würde den Film unglaubwürdig machen und ein vielleicht gar nicht intendiertes Identifikationspotential heraufbeschwören. Man hätte auch nur die Tat in Echtzeit bebildern können – doch was wäre der Film dann, wenn nicht eine andere Form eines Ballerspiels?

Weil die Erklärungsstrategien mit jedem weiteren Tötungssakt, der sich blutig in die Geschichtsbücher (also die Bildarchive der Fernsehsender und die virtuell erstellten Handlungsorte in einschlägigen Videospielen) einschreibt, weniger greifen, bleibt in der Wiederholungsschleife solcher sinnlosen Massaker nur ein immer krächzenderer Schrei des Entsetzen und die Frage, warum all das passiert.

Das klagende Wort „Warum“ ersetzt jede Reflexion über die Phänomenologie einer solchen Tat, weil es vorschnell das Scheitern der Auseinandersetzung mit vorgeblich unerklärlichen Taten ausruft. Wie konnte das passieren? Warum haben wir davon über all die Jahre nichts bemerkt? Was kann zu solcher Verzweiflung treiben? – alles Fragen, die sich um dieselbe Ratlosigkeit nach dem Motiv drehen. Dann folgen die immer wieder bewährten Konfliktbeseitigungsstrategien.

So war es auch im Fall von Tim K, dem 17-jährigen Attentäter von Winnenden, der im Jahr 2016 15 Menschen richtete und sich schließlich selbst erschoss. Als noch nicht einmal klar war, ob der Täter überhaupt schon tot ist, meldete sich bereits die Bundesfamilienministerin zu Wort und dozierte von den immer gleichen Frühwarnsystemen zum Schutze der Gesellschaft. Die Untiefen der Psyche sind nun einmal nicht messbar wie das Grollen eines Erdbebens.

Was Van Sant mit seinem Film möglicherweise zeigen wollte, ist, dass es eigentlich kein Motiv gibt oder dass es, wenn es doch existieren sollte, keine Rolle spielt.

In Wahrheit ist jeder Amoklauf eine Wiederholung eines anderen; eine Verbesserung des High-Scores, um es ganz zynisch in der Videospiel-Sprache auszudrücken. 

Oder anders: Amoktaten und ihre Erklärungsversuche unterliegen einer entsetzlichen Interpretationsspirale. Eine große Geschichte fataler Destruktivität wird hier mit narzisstischer Energie immer weiter fortgeschrieben. Aber ihre Relevanz finden solche Taten immer schon im Ausdruck der Hilflosigkeit, die jeder Interpretation zugrunde liegt. Das ist das Aufregungspotential und die Schockgarantie für jede weitere Tat.

Den Titel seines Films, „Elephant“, hat Van Sant einem erschreckenden Kurzfilm des britischen Sozialfilm-Regisseurs Alan Clarke entliehen. Der deutschen DVD-Version – wohlgemerkt der Ausgabe ohne Jugendfreigabe – ist er als Extra hinzugefügt. In quälenden, minimalistisch inszenierten Episoden erschießt irgendein wildfremder Täter an irgendwelchen wildfremden Orten in Irland und Nordirland wildfremde Menschen.

Keine Geschichte, nur Szenarien. Es ist ein 40 Minuten lang sich wiederholendes Grauen der Bilder, das den mittlerweile entschärften Irland-/Nordirland-Konflikt ästhetisch und psychologisch auf eine banale Ballerspiel-Erfahrung herunterbricht. Wie betäubt verharrt die Kamera auf dem leblosen Opfer, bis eine neue Szene beginnt und das Schema an einem anderen Schauplatz mit anderen Bedingungen wiederholt wird.

Gewalt ist in jeder denkbaren Variation bildlich darstellbar. Doch jede Imagination des Tötens fordert vielleicht auch eine Realisation in der Wirklichkeit heraus. Ein Theater der Grausamkeit, in dem es für den oder die Protagonisten (auf der Bühne begegnen sich nur zwei Rollen: Täter und Opfer) nur eine Handlungsvorschrift gibt: Sei origineller, überdenke, wie einmal darüber berichtet werden könnte, vergrößere das Entsetzen.

Die vielleicht aussagekräftigste Pointe im Fall Tim K. setzten die Kriminalermittler selbst, in dem sie blind einer wohl gefälschten Nachricht Glauben schenkten, wonach der Schütze bereits im Internet vor seiner Tat gewarnt hätte - inklusive Erklärung, dass sich ein an der Psyche erkrankter Jugendlicher an seinen Peinigern rächen möchte. Es wäre jener wundersame, dringend benötigte Beweis gewesen, dass alles geplant und durchdacht gewesen ist. Also keine Kurzschlusshandlung?

Doch hielten die Ermittlungen noch weitere Lektionen bereit. Nicht auf die Spur eines individuellen Täters begeben sich die Ermittler, sondern auf die Suche nach der Silhouette eines Typus – des Amokläufers. So waren die ersten Informationen über Tim K., die in die Öffentlichkeit gelangten, jene nach seinen bevorzugten Computerspielen. Die Untersuchung seines Zimmers dürfte sich auf den Platten- und Kleiderschrank beschränkt haben. Hauptsache, es findet sich ein Muster. Der Täter wird - auch ohne psychologische Grundlage - zum Kranken gemacht. Doch bei Tim K. war eben all das, was häufig ins Killer-Raster passt, nicht zu finden.

Jeder Amokläufer greift Gesellschaft, Staat und gewissermaßen auch die Grundlagen der Menschlichkeit an, selbst wenn sein meist unentdeckt bleibendes Motiv ein anderes sein sollte und die Tat nichts anderes sein mag als ein erweiterter Suizid. 

Es gibt gerade deshalb keine Erklärungen für diese Taten, weil ihr narzisstisches Ideal die spätere Darstellung der Handlung – die Nachricht über den Mord – perfide mit einplant. Die Selbsttötung als letzter krönender Akt des nihilistischen Sieges über möglicherweise von anderen auf den Täter ausgeübte Kräfte (Mobbing, schlechte Schulnoten, gesellschaftlich wenig tolerierte Neigungen) soll ganz bewusst jede Aufklärung verschleiern.

Die Geschichte des Amoklaufs hat sich von den ersten nachweisbaren Ursprüngen unter malaiischen Stämmen bis zur zynischen Rache an ehemaligen Arbeitgebern (vorwiegend in Postämtern – was die Taten zu postal shootings, medial also eindeutig codierten Taten machte) nun zu den so genannten school shootings ausgeweitet.

Vielleicht waren Schulen noch nie Refugien der Ruhe, so wie es sich von Lehrern, Schülern und ihren Eltern gewünscht wird. Um genau zu sein waren sie eigentlich schon immer weniger Symbolräume liberalisierter Bildung als vielmehr Symbolräume der Macht, die Individuen zu folgsamen Bürgern machen sollen. Aber möglicherweise ist das Problem gerade, dass in der Diskussion um die Schulen viel zu sehr das System selbst im Mittelpunkt steht und viel weniger die Schüler. Mit Rücksicht auf die political correctness verliert man den eigentlichen Kriegsschauplatz aus den Augen.

Längst fungieren Schulen als Bildungsfabriken und Sozialisationsanstalten. Einerseits werden die Schüler punktuell auf ein Leben als flexible, konzentrationswillige, gestaltungsfähige Arbeiter vorbereitet. Andererseits übernehmen die Lehrer eine Aufgabe, die eigentlich von Eltern getragen werden müsste: Sie lehren die Unaufmerksamen in Aufmerksamkeit, vermitteln Werte, bestrafen Fehlverhalten und Disziplinlosigkeit – und müssen dies auch noch ganz körperlos und mithilfe von symbolischen Gesten tun. Die Erziehungsberechtigten hingegen kümmern sich vornehmlich um die Entwicklung einer stabilen, individuellen (konkurrenzfähigen, optimierungswilligen) Persönlichkeit. Das spüren die Schüler nicht nur, sie nehmen diesen Wettbewerb auch lebhaft an.

Die konkreten Schindereien gehen deshalb, anders als noch vor einigen Jahrzehnten, nicht mehr von der aseptisch dozierenden und gelangweilt vor sich hin strafenden Lehrerschaft aus, sondern von den über- und unterprivilegierten Schülern selbst. 

Die einen quälen aus Langeweile, die anderen malträtieren ihre Mitschüler, weil sie nur so noch mit Aufmerksamkeit belohnt werden können. Denn nichts scheint in unseren vermeintlich narzisstischen Zeiten wichtiger als Aufmerksamkeit und Präsenz. Deshalb funktioniert das Außenseiter-Argument so gut in der Amokläuferdebatte. Es verklärt die Tat zu einem verzweifelten Hilfeschrei nach Aufmerksamkeit.

Gerade dieser Gedanke ist gefährlich. Hier bettelt kein einsamer Mensch um ein wenig Freundlichkeit, in dem er voll Hass und gnadenlos die Menschen für ihre geringe Anteilnahme bestraft. Viel mehr ist es der sehr bestimmte und von einer glasklaren Logik getragene Versuch, Anerkennung zu „erarbeiten“, die es dem Täter ermöglicht, Teil einer großen Bewegung zu werden, die kein Manifest benötigt und deren einzige Regeln symbolischer Natur sind: frei von Verantwortung für das eigene Handeln und den Folgen, gewolltes Vorbild für unzählige weitere Rächerfantasien und mal nur für die Schublade, mal konkret umgesetzte Mordpläne. Die ändern sich erst dann, wenn ein Attentäter unversehrt überlebt und festgenommen wird. Doch diese Situation ist im Bauplan des Amoklaufs gerade nicht vorgesehen. Die Tat steht für sich, die Selbsttötung oder Hinrichtung durch Spezialkräfte der Polizei ist Teil davon.

Wenn Van Sant etwas nachweisen wollte mit seiner Versuchsanordnung über den Massenmord an einer Schule, dann ist es die Erkenntnis, dass solche Taten nicht verhindert werden können. Sie sind das Ergebnis einer Ersatzrealität, die im von inszenierter Individualität geprägten medialen Diskurs erst erzeugt wird. Es bleiben nur noch künstliche Chiffren zur Ich-Ausbildung bei gleichzeitigem Persönlichkeitsentwicklungszwang.

Der Amokläufer ist, genauso wie der erfolgreiche Unternehmer, der asoziale Arbeitslosengeldbezieher, der vom Publikum geliebte Internetstar oder der vom Burnout bedrohte, eigentlich aber als arbeitsscheu gebrandmarkte Lehrer eine dieser Chiffren und deshalb im perversen Sinne der Aufmerksamkeitsproduktion erfolgreich. Er ist subversiv, ohne subversiv sein zu wollen, denn das Interesse, das er erregt, hat keinen weiteren Zweck als eben jene Aufmerksamkeit selbst.

„Von dem könnte ich mir auch vorstellen, dass er bald einmal mit Waffe in die Schule kommt“, heißt es nicht selten unter Schülern. Solange den Jugendlichen nicht mehr zugeschaut wird, ihre Sorgen und Nöte nicht ernster genommen werden als ihre von einer hedonistischen Konsumgesellschaft hervorgerufenen Wünsche, solange keine Vorbilder mehr existieren, die alternative Wege der Lebensbestimmung aufzeigen, wird sich die Frage nach dem „Warum?“ immer wieder stellen.

In „Elephant“ sehen wir vorbehaltlos und ohne Unterhaltungs- oder Aufklärungszweck Teenagern beim Teenagersein zu. Das ist eine Erfahrung, die zuweilen verstören kann, denn es ist auch eine Auseinadersetzung mit Unfertigkeit, Sehnsucht, Verletzlichkeit, Ungehorsam, Einsamkeit und vor allem Unbestimmtheit. Diese Vorzeichen zuzulassen, sie medial auch zu vergrößern – sie also als Lebenskonstanten den YouTube-Influencern und Counterstrikern, den Starschauspielern und Supersängern entgegenzuhalten –, anstatt sie mit Vorstellungen von vermeintlich erfolgreichen Sozialmodellen und Persönlichkeitsstereotypen zu konterkarieren, wäre eine notwendige, gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Dann, wenn sich die vielen an Erschöpfung durch den Authentizitäts- und Persönlichkeitszwangs erkrankten jungen Menschen wieder als Entwickelnde erfahren, deren Leben zu Teilen bestimmt und zu Teilen bestimmbar ist, wird das Phänomen des school shootings genauso schnell verschwinden wie einst auch das der Amok laufenden Postangesetellten.

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