Kakerlaken glotzen

Eine ganze Nation wärmt sich am Fernsehlagerfeuer, wenn RTL alljährlich „Ich bin ein Star - holt mich hier raus!“ sendet. Dass es sich um einen harmlosen Spaß ohne Folgen handelt, ist allerdings ein gefährlicher Irrtum.




Warum nur berichten so viele geradezu ekstatisch vom RTL-Dschungelcamp - gibt es nicht wichtigere Themen, die dieses Land bewegen? Sicher gibt es die. Aber der Erfolg dieses eigenartigen Sendeformats ist, dass es trotz Mediantamtams massiv unterschätzt wird. Eigentlich sollte man annehmen, dass es sich hier um einen weiteren Tiefpunkt in der nach unten offenen Skala des Selbstentwürdigungstheaters handelt, das die Privaten und besonders RTL seit Jahren kultivieren. Aber das wäre zu einfach.

Längst wärmt sich eine ganze Nation an diesem Fernsehlagerfeuer. In der Spitze sehen bis zu 9 Millionen Menschen dem bunten Treiben im australischen Regenwald zu. Oder ist es doch nur ein gigantischer Container in Köln/Hürth? Jedenfalls bescheren die Zuschauer RTL vor allem in der jungen Zielgruppe Marktanteile, die sonst nur Fußballübertragungen erreichen. Das, was „Wetten dass…“ einmal war, nämlich talk of town zu sein, ist inzwischen das Dschungelcamp. In den Kantinen und Büroräumen, in den Schulen und Arztpraxen wird über Ekelprüfungen und den einen oder anderen Seelenstriptease diffuser Halbprominenter intensiv, manchmal vielleicht hinter vorgehaltener Hand („Ich weiß, es ist ja solch ein Quatsch, trotzdem gucke ich es irgendwie ganz gerne“), aber doch mit fast absurdem Ernst palavert. Die resolute Verweigerungshaltung einer Blondine, die mittels Kakerlakenspeise für das Abendessen ihrer Campkollegen zu sorgen hatte, oder die rührend naiven Ohnmachtsanfälle und Heimwehklagen eines besonders jungen ehemaligen Castingshowkandidaten (der damit die Gunst des Publikums restlos gewinnen konnte) werden diskutiert und voller Inbrunst psychologisch bewertet.

In dieser Castingshow Deluxe ist der Fernsehzuschauer selbst die Jury und wähnt sich mit einem diebischen Lachen im Gesicht in der Rolle des Scharfrichters. Es ist geradezu lächerlich.

Warum also Gedanken verlieren über diesen televisionären Menschenzoo, der doch wohl mit den Mitteln des Trash-TVs niedere voyeuristische Bedürfnisse befriedigen und die Lust an der Entwürdigung anhaltend zelebrieren will? Längst hat sich auch bei jenen herumgesprochen, die solchen Klimbim im Fernsehen generell verdammen, dass „Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“ nicht erst auf den zweiten Blick ein mit viel Geschick und einigem Geld produziertes Unterhaltungskabinettstück ist, das zwar mit grenzdebil wirkenden Protagonisten besetzt ist, trotz allem aber von erstklassigen Autoren geschrieben wird. Der laut ausgesprochene Konsens, der das Camp nicht nur auf die BILD, sondern auch in die ZEIT hievt, ist, dass RTL hier ganz einfach gutes Fernsehen mache: lustig, von allen Beteiligten gewinnbringend genutzt, im Grunde harmlos - und dann auch noch überraschend hintersinnig. Harmlos ist hier allerdings gar nichts.

Mit Buschtrommeln und Trompeten stellt das Privatfernsehen noch einmal die große Frage, was  eigentlich Fernsehunterhaltung sein kann, wenn doch angeblich eh schon keiner mehr die Glotze anmacht. Das Straflager für aus dem Rampenlicht ausgetretene ehemalige Teilnehmer einer kaum mehr zu überblickenden Showkaste, die auf diversen Bühnen ihre Credibility erprobt, will Raum bieten für einen kaum zu bändigenden Humor der Erbärmlichkeit (der hier selbst lustvoll zitiert wird).

Anscheinend ist das Veralbern der offensichtlichen menschlichen Untiefen inzwischen das mehrheitsfähigste Element der (Fernseh-)Komik geworden. Es wird nicht über die Schwächen anderer Menschen gelacht, sondern über ihr Scheitern und ihre generelle Deplatziertheit in einem System, das der Berühmtheit um ihrer Selbstwillen huldigt. 

So viele Narzisse, die im Dschungeltümpel das Bild eines vielleicht durch die Show aufgerüsteten Promistatus‘ erhaschen wollen?

Im Dschungel müssen an jedem Baum Spiegel angebracht sein: „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ ist, und das mag allen Beteiligten erst nach einigen Sendestaffeln aufgegangen sein, echtes Meta-Fernsehen. Hier spiegelt sich das Fernsehen selbst (auch weil es den Ekel natürlich nur inszeniert), hier spiegelt sich die Reality-TV-Show mit ihrer Besetzung von definitiv durchschaubaren role models als Kandidaten (die dann doch, that’s life!, lustvoll gegen ihre offensichtliche Besetzung anspielen), hier spiegeln die Kandidaten ihren eigenen Status als Medienkretins, hier spiegeln sich die Gastgeber lustvoll als Knallchargen eines im Reich des Sinn- und Würdelosen angekommenen Privatfernsehsenders.

Und letztlich spiegeln sich die Zuschauer auch selbst, wenn ihnen auf schmerzhaft symbolische Weise klar gemacht wird, dass eigentlich sie es sind, die genüsslich in eine Kakerlake beißen, wenn sie sich diesen Bildern aussetzen.

Das Privatfernsehen verdient sein Geld immer noch mit Werbung. Doch welche Werbekunden wollen sich auf diese Schlammschlacht im Urwald Australiens einlassen? Immer wieder betonen die Produzenten der Sendung, dass sie damit kaum Geld verdienen würden, aber die süße Verlockung eines mit Werbeumsätzen kaum zu beziffernden Prestiges, ein spitzfindiges Medium im Medium geschaffen zu haben, das sich längst vom billig produzierten Show-Einerlei verabschiedet hat, kann sehr wohl darüber hinwegtrösten. Etwas ähnlich aufwändig produziertes Format wie das „Dschungelcamp“ traut sich inzwischen kein anderer Sender mehr. So ist die Sendung mit all ihren offenen Schmuddel-Flanken auch ein ironischer Kommentar zur Zukunft des Fernsehens.

Das Dschungelcamp ist darüber hinaus Reality-TV in Anführungszeichen: Ein Kandidatenkreis (von der Sorte „einmal bekannt gewesen“, „leidlich bekannt“ und „eigentlich nur einem Kreis von Hardcorefernsehzuschauern bekannt“) wird aus dem Alltag eines Lebens gerissen, das irgendwann  aus den Fugen geraten sein muss – jedenfalls fehlt jetzt das Geld für was auch immer, so dass zwei Wochen im Busch als für die versprochenen Moneten locker zu nehmende Hürde erscheinen. Die Aufgabe lautet: Ungeschminkt und wohl auch vom Wunsch besessen, sich mit allen Mitteln beim Publikum anzubiedern, allerhand Ekelprüfungen zu bestehen, wovon die größte wohl sein mag, mit einem Haufen von in jeder Hinsicht Gleichgesinnten (alle wollen Kohle und  Ruhm) vierzehn Tage auf engstem Raum dahinvegetieren zu müssen.

Und wie schön sehen manche ehemals von zentimeterdicker Schminke verunstaltete Zicken aus, wenn sie von der Regenwaldfeuchtigkeit aufgedunsen und vom Koffein- und Tabakentzug aufgefrischt werden.

Nachdem das Fernsehen immer hochauflösender geworden ist, finden Menschen ohne Maske und ungetuscht darin keinen Platz mehr. Im Dschungelcamp aber gibt es keine Maskerade. Auf jeden Fall nicht für die unter den Witterungsbedingungen sichtbar reagierenden Körper. Angeblich auch nicht für den Seelenapparat. Ist das nicht die ursprüngliche, lebensnahe Schönheit des Menschen in natura, nach der sich die Darstellungskünste verzehren? Eigentlich eine Wellnessfarm, dieses Camp. Wenn die Kandidaten es nicht so entsetzlich ernst nehmen würden. 

Aber es ist nicht der zynisch verzerrte Kampf ums tatsächliche Überleben, der hier abendfüllend erzählt wird, auch wenn die Kandidaten gerne von den Grenzen sprechen, die sie hier tatgtäglich überwinden müssen. Hier meint survival of the fittest, dass sich ein Glückspilz mit Krone und Zepter schmücken darf, weil er irgendetwas anzubieten hat, das den vielen Menschen auf ihren Fernsehsofas imponiert. Nur weiß vorher niemand, wer oder was das ist.

Meistens werden die Gewinnertypen für ihre augenscheinliche Authentizität zum Sieger erklärt. Sie zeigten Emotionen, wo andere schwiegen oder der Performance der Kollegen nur mit giftigen Worten begegneten. Sie stellten sich gegen einen Mitkandidaten , wenn dieser der Gruppe Schaden zufügen wollte. Oder sie stellten ihren Markenkern besonders gut heraus.

Aber wen interessiert schon der Gewinner in einer Sendung, die vom Verlieren erzählt: Spannend sind die Lagerfeuergeschichten der Gescheiterten, wenn sich also die offensichtliche Feier der Gehässigkeit für einige Momente zur rührenden Beichtstunde wandelt. 

Das ist sogar noch wesentlich spannender als die langweiligen Dschungelprüfungen oder die zur Schau gestellten Körper einiger Kandidatinnen, die damit einst oder immer noch ihr Geld verdien(t)en. Vielleicht ist auch das nur eine weitere Lehre dieses Meta-Fernsehens, das von sich selbst betrunken unsere Medienwelt aufs Korn nimmt:

Es gibt keine Schönheit, nichts Wahres und schon gar nichts Gutes, ohne dass zuvor durch Schlamm gewatet werden muss.

Erst kommen stundenlang die Ekelbilder und dann, vielleicht für einen kurzen Augenblick, ein erhabener Moment. Im Lager werden Schicksale verhandelt und ergriffen kommentiert. Hier begegnen wir Menschen, die unter der Dschungelhitze gar nicht anders können, als ihre Maske abzulegen, um ihr wahres Gesicht zu zeigen. Oder doch nicht? Werden elende Charaktere, die unterm Blitzlichtgewitter kaum zu ertragen sind, unter Giftschlangen und Spinnengetier zu edlen Charakteren?

Das Spiel mit der Realität wird im Dschungelcamp mit beeindruckender Konsequenz von Seiten der Kandidaten, aber auch vom Autorenschreibtisch aus, betrieben, so dass für den Fernsehzuschauer kaum eine andere Wahl bleibt, als sich selbst entscheiden zu müssen, ob er all das Gezeigte nur für eine Illusion hält oder ob er dahinter doch Momente ergreifender Ehrlichkeit vermuten darf. Ist das Performance-Kunst? Können Schauspieler gar nicht anders als auch unter diesen Bedingungen weiter zu schauspielern? Was ist eigentlich Schauspielerei und wie viel ist sie wert, wenn die Regie für die Protagonisten nicht sicht- und hörbar ist, also niemals klar wird, ob der Shakespeare-Monolog auch mitgeschnitten wird? Die Wahrheit wird man nie erfahren.

Das musste die Feuilletonisten und intellektuellen Moralapostel doch auch ein wenig in die Irre führen.

Was ist, wenn dies also doch nicht nur ein wirres Schauspiel ist, sondern hochreflexives, mit Intellekt angetriebenes, absurdes Theater, das den Zuschauer auf eine Weise herausfordert, mit der er – längst dressiert, sich am gescripteten Realismus zu ergötzen – einfach nicht rechnen kann?

Vielleicht sogar unfreiwilliges, aber nichtsdestotrotz hochwirkungsvolles theatro mundi für die Massenmediengeneration? Und eine fantasievolle Meditation über Licht- und Schattenseite des Berühmtseins, also dem Götzen unserer Zeit?

RTL delektiert sich längst an der überraschend zugeschobenen Intellektuellenpose. Eine landesweit geschaltete Werbekampagne für eine vergangene  Sendestaffel des Dschungelcamps zeigte einst allerhand ehemalige Teilnehmer der Sendung, die noch einmal Zoten von sich gaben, längst zur allgemeinen Belustigung als Bonmots von den Moderatoren zitiert. Passend dazu der Slogan: „Deutschland – Ein Land von Dichtern und Campern“. Vor einiger Zeit hatte es die Sendung sogar in die Grimme-Preis-Nominierungsliste geschafft.

Hat sich RTL dieses Image mit den gewitzten Moderatorenkommentaren – einer geschickten Variation und Repetition von Sprachhülsen, die ihrerseits auch wieder nur die chronische Logorrhoe des Fernsehens reflektieren – verdient oder ist es tatsächlich so, dass sich nach zwei Wochen unterhaltsamen Ekelk(r)ampfs Wahrheiten über Individuum und Gesellschaft heraus schälen, wie sie eben in keiner Talkshow und schon gar nicht mehr in irgendwelchen anderen verquasten Informationsformaten in der Glotze gewonnen werden können?

Passt es da nicht, dass diese Show (Reis und Spiele!) im Urwald ausgetragen wird, dort wo, wie wir wissen, das unkontrollierbare Unbewusste der Menschen lauert, anscheinend aber auch die von Menschenhand betriebene Wunschmaschine Fernsehen wartet? Wäre Klaus Kinski nicht ein sicherer Kandidat, wenn er noch leben würde?

Noch viel grausamer als der Schock, dass diese Sendung möglicherweise eines Tages einen wichtigen Preis bekommen könnte, wäre es wohl, einer anderen Tatsache ins Auge zu blicken, die sich nach mehrmaliger vergnügter Sichtung des Dschungelcamps ergibt:

Dieses Format ist deshalb so erfolgreich bei Jung und Alt, Dick und Dünn, Klug und Blöd, weil es einer dionysischen Feier der Populärkultur gleichkommt, die ihren großen Sieg über die einstmals deutungsstärkere bürgerliche Kultur zelebriert.

Mit einem Grinsen in den Augen blickt uns der Dschungel an und verrät uns, dass in den abgekämpften Gesichtern unsicherer Prominenter, die vom allesfressenden Medienuniversum längst geschluckt und möglicherweise sogar mehrfach verdaut worden sind und die sich nun von Bohnen ernähren, sich erbrechen, wenn es nur zum fermentierten Ei  reicht, möglicherweise eine größere Wahrhaftigkeit zu finden ist als in den großspurigsten Inszenierungen auf den Bühnenbrettern dieser Welt.

Diese Oper der Scheußlichkeiten bedeutet den Menschen vielleicht nicht nur als Unterhaltungseskapade etwas, sondern sie vermuten gerade hier – ganz  unten, im Höllenschlund der kaputten Glitzerwelt – Erkenntnisse, wie sie sie aus den Werken der Kunst oder der Literatur nicht mehr erhalten.

Ja, im Urwald geht es noch moralisch zu. Jeder Fehler wird vom Kollektiv bestraft, jede Verhaltensauffälligkeit als deutliches Zeichen einer erschummelten Persona enttarnt, jede Sünde gnadenlos in der Gruppentherapie am Lagerfeuer besprochen. Was ist hier noch Inszenierung? Die Fernsehzuschauer identifizieren sich mit diesen geschundenen Gestalten – und wer weiß, vielleicht lachen sie am Ende auch noch über sich selbst, dass sie all diesen Quatsch mit großer Ernsthaftigkeit zelebrieren.

Wäre das nicht der Gipfelpunkt der Unterhaltungskunst?

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