Lob der Sensibilität (2)

Verteidigung der Sensibilität vor den Tücken der Sentimentalität


 Es ist leider so, dass die meisten Menschen, die sich als sensibel bezeichnen und mit ihrer angeblichen Empathie sogar zu prahlen bereit sind, äußerst sentimentale Menschen sind. Sentimentalität ist aber das Gegenteil von Sensibilität. Es ist das Bewegt-Sein am eigenen Bewegtsein. Vergleichbar mit dem Liebesbriefeschreiber, der von seinen eigenen Worten an die Liebste zu Tränen gerührt ist. Der sentimentale Mensch spricht oft von Gefühlen, und er zeigt sie. Er zeigt sie präzise und zuverlässig in solchen Situationen, in denen sie ihm und anderen angemessen erscheinen. Oft zeigt er sie auch, wenn sie nicht mehr angemessen sind. Ein sensibler Mensch verhält sich im Grunde völlig anders. Er versteht und ergreift die eigenen Gefühle und die Gefühle anderer – erst einmal ganz ohne Worte und Taten.

Sensibilität führt zu Dezenz. Sentimentalität verführt zu Theater. 

Es ist ein weiterer Irrglaube, dass sich Sensibilität vor allem auf die Gefühle zurückführen lässt, die der Sensible gegenüber anderen Menschen empfindet. Vor allem die Gefühle, die anderen Menschen verborgen werden müssen, weil sie entweder in bestimmten Situationen unangemessen wären oder in anderen gesellschaftlich nicht erwünscht, drängen den Sensiblen zu einer Reaktion, denn er hat sie manchmal sogar im grotesken Übermaß. Der Sensible ist leichter verängstigt, vergeht öfter vor Scham oder empfindet eine Trauer, die keinen Grund kennt. Aber der Sensible kann sich auch von einer Wut leiten lassen, die für die meisten Menschen unverständlich ist. Auch kann er von einer kaum zu befriedigenden Libido angetrieben werden, die den Sensiblen nicht selten selbst verstört.

 Die besondere Kraft seiner Gefühle, ihre außergewöhnliche Intensität, erlebt ein sensibler Mensch bereits im Kindesalter. Sie macht ihn in einer Zeit, in der rohe Kräfte sinnlos walten, zum Außenseiter. Und Außenseiter bleibt er ein Leben lang, denn in einer radikal ökonomisierten Welt steht der Sensible dem vorbehaltlosen Konsum aufgrund seiner Veranlagung quer gegenüber. Er konsumiert weniger, weil er mehr genießt, aber auch, weil er sich deutlich öfter ekelt. Darauf können Großkonzerne keine Rücksicht nehmen. Deshalb kann auch die Gesellschaft darauf keine Rücksicht nehmen. Die nie und nimmer empfindsamen Sentimentalen hingegen werden von der Werbung hofiert. Nostalgie und Rückschau auf die Wonnen der Kindheit, gern bediente Zustände des Emotionsvokabulars der Werbung, sind Züge der Sentimentalität.

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