Zeitenwende (8)

Die Suche nach Genuss ist etwas zutiefst Menschliches – und wird deshalb von allen Seiten pervertiert. Abermilliarden Lebensmittel werden wegen ihres besonderen Geschmack, ihrer hohen Qualität und ihrer besonderen Herstellung empfohlen. Es gibt tausende Schokoladensorten, unzählige Kaffee- und Teemarken, Joghurts mit Geschmacksrichtungen, die man sich nicht einmal im Traum ausmalen würde und Äpfel, deren Name pure Poesie ist. Die Käsetheke ist zum Treffpunkt des Genussdandys unserer Zeit geworden. Wer hier Geschmack beschreiben und Sorte richtig ausgesprochen nennen kann, ist im Genießerolymp angekommen.

Aber es gibt nicht nur diese Seite des Genusses. Tütensuppen, Fertigprodukte und allerlei Modeprodukte erhalten ihren Geschmack erst durch eine Unzahl an Geschmacksverstärkern. Seit Jahrzehnten regiert das Fast-Food den hungrigen Verstand, wenn es darum geht, schnell und bequem, aber auch billig etwas zu essen zu bekommen. Die Tiefkühlpizza ist das Wunderprodukt des 21. Jahrhunderts. An ihrem Geschmack muss sich sogar der Italiener um die Ecke messen lassen.

Es gibt ein regelrechtes Diktat der Geschmacksverstärker. Nur wird es nicht als solches wahrgenommen, weil die vielen chemischen Zusatzstoffe längst die Geschmacksnerven befallen haben. Oftmals sind Geschmacksverstärker, künstliche Zuckerstoffe oder besondere Röst- bzw. Fritierverfahren gesundheitsschädlich. Die alle paar Monate durch die Presse gejagten Tests diverser Labore, die von der Schädlichkeit solcher Produkte künden, haben den merkwürdigen Bio-Food-Boom erst ausgelöst. Hier werden Lebensmittel erst gekauft, wenn sie den verkaufswirksamen Bio-Stempel tragen. Ein Gartenapfel könnte solange unter Verdacht stehen, mit giftigen Stoffen belastet zu sein, solange er nicht von diesen schönen drei Buchstaben als „gesund“ eingestuft wird. Zwei Seiten einer Medaille.

Geschmacksverstärker bestimmen aber auch unsere Geschmacksvorstellungen neu, weil sie nur Extremgeschmäcker zulassen. Der künstlich erzeugte oder zumindest künstlich verstärkte Geschmack von Erdbeeren entwickelt das Verständnis für den Geschmack des Obstes mit. Wer nur künstliche „Erdbeeren“ gekostet hat, wird vom Geschmack einer tatsächlichen Erdbeere überrascht sein. Er wird erstaunt sagen, dass es sich doch um ein fades Produkt handele (als Ausrede könnte gelten, dass die Erdbeere wohl kaum Sonne gesehen habe und deshalb so säuerlich schmeckt). Wer ein Glas Milch auf einem Bauernhof trinkt, wird vom Geschmack echter Kuhmilch entweder begeistert sein oder das Gesicht verziehen.

Doch wie hat McDonald’s erst unser Leben verändert? Was vielleicht irgendwann einmal erbittert angefochten worden ist – wie die angeblich genussfeindliche Umgebung, das schnelle Herunterschlingen schlecht gebratenen, vor Fett triefenden Fleischs in Kohlenhydratverpackung oder die Akzeptanz von Softdrinks beim Essen – spielt längst keine Rolle mehr. Fast jeder isst bei McDonald’s und Konsorten. Doch indem der Modus des Essens verändert wird, indem die Mahlzeit zur Mahlzeit eines überall erhältlichen Kultprodukts (mit Kultgeschmack) erhoben wird, verändert sich auch das Ess-, noch mehr aber das Geschmackserleben. Der Geschmack, etwas zutiefst Lebendiges, wird künstlich zu einem Erlebnis gemacht. Das Mittagsessen wird bei McDonald’s schon für die Kinder beim berühmt-berüchtigten Geburtstagsfest zum großen Spaß. Das ist die Erkenntnis, die uns das Fast-Food in die Gehirne gepflanzt hat: Essen kann, nein muss Spaß machen. Insofern ist Fast-Food alles andere als genussfeindlich. Es generiert ja selbst Genuss. Es erzeugt die Vorstellung eines Geschmackes, der eben nur in eben jenen Fast-Food-Tempeln zu bekommen ist, und das überall und zu jeder Zeit auf dem ganzen Erdball.

Man könnte einwenden, dass dies doch die hübsche Verwirklichung eines demokratischen Ideals ist. Gleiches Essen für gleiche Menschen und das überall.

Diese Annahme ist aber töricht.

Die Begierde nach einem Lebensmittelprodukt wird mit immer aufwendigeren Werbemitteln künstlich erzeugt. Diese Begierde bedient sich der menschlichen Suche nach Genuss. Die lustvolle Vorstellung des Essens (der Mahlzeit) wird durch eine perverse Begierde nach einem Produkt (Mahl) verdrängt. Deshalb verliert die Mahlzeit, der Prozess der Nahrungsaufnahme, immer mehr an Bedeutung. Viel zu viele Zwischenmahlzeiten verlocken dauerhaft zu einem kurzen Geschmackskick. Ihr Nährwert tendiert gegen Null. Dennoch werden sie weit mehr begehrt als jedes abwechslungsreiche Gericht. Snickers, Coca-Cola und Chips – aber auch diverse Obstsorten, Müsliriegel und Joghurts – bestimmen in Wahrheit unser Leben. Frühstück, Mittagessen, vielleicht Kaffee-, auf jeden Fall aber Brotzeit: allesamt eine Reihung von Snacks. Pommes Frites sind zu guten Freunden geworden.

Die Essstörung hätte das Zeug, zur Krankheit unserer Zeit aufzusteigen. Sie ist aber so sehr verbreitet, dass sie nicht mehr als Krankheit eingestuft werden kann. Die Essstörung ist zur Normalität geworden, weil die Norm eines geregelten Speisens, vielmehr noch die Qualität eines gesunden Appetits verloren gegangen ist. Sie wurde in der westlichen Welt – wo die Menschen so etwas wie Hunger nicht mehr kennen, stattdessen aber von Heißhunger gequält werden – den Maximen der Arbeits- und Freizeitgesellschaft geopfert. Man isst nur noch aus Zeitnot oder aus Langeweile.

Es ist dieser Sicht nach und aus der Logik der Geschmacksperversion heraus vollkommen gleichgültig, ob man sich von Tiefkühlpizza und Soft Drinks ernährt oder ob man jede Woche eine andere Feinkostsalami mit Landbrot und Bordeaux zu sich nimmt. Genuss entsteht nicht durch die Begierde nach einem bestimmten hochwertigen oder besonders geschmacksdeutlichen Produkt, sondern durch die Zubereitung und durch die angemessene, d.h. bewusste Aufnahme. Was hilft es dem Feinschmecker, wenn er im dunklen Kämmerlein seinen Grauburgunder degustiert, und was bedeutet schon die Lust, in einen BigMac zu beißen, wenn der Hunger nach dem Burger größer ist als davor?

Über Geschmack lässt sich angeblich nicht streiten. Entweder man hat ihn oder man hat ihn nicht. Das ist falsch. Geschmack bildet man heraus. Er entwickelt sich. Wird der Gaumen von der Einseitigkeit künstlicher Zusatzstoffe verkrüppelt, bleibt er es ein Leben lang. Wird der Gaumen von der Vielzahl an Geschmacksrichtungen – seien sie nun künstlich oder wegen ihrer Exotik als Besonderheit angepriesen – zu sehr verwöhnt, dann vergeht jede Lust am Essen, denn jede Lust giert nach Steigerung.

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