Zeitenwende (5)

Während Krebs radikal den Umgang mit dem Tod in Frage stellt, stellt die Depression entscheidende Fragen zum Leben.

Die Urangst vor dem Tod wandelt sich zur Urangst vor dem Sterben. Eine Krebserkrankung mag therapierbar sein. Doch die Sorge, dass der Krebs wieder ausbrechen könnte – dass er zurückkehren könnte wie ein Dämon, der nur für kurze Zeit vertrieben scheint – wird den einmal erkrankten Patienten nie wieder loslassen.
Krebs kommt von innen, er ist Teil des Körpers. Anstatt ein Verfallssymptom zu sein ist er ein Wachstumssymptom. Falsch programmiertes, fehlgeleitetes Wachstum. Über Krebs kann man nicht sprechen, nur über seine Zerstörung, seine Heilung. So reihen sich Geschichten an Geschichten von der großen Lebensenergie, die Krebspatienten aufbringen mussten, um ihren Krebs zu besiegen. Manche geben ihrem Tumor einen Namen.

Mit dem Krebs zu sterben bedeutet zweierlei:
Entweder schlägt die Behandlung an und schenkt dem Erkrankten scheinbar ein zweites Leben, führt dann aber doch zum qualvollen Tod. Ein Tod, der in letzter Konsequenz ein scheiterndes Behandeln voraussetzt. Ein Tod im Krankenhaus, vielleicht im Hospiz. Darüber legt sich die Angst. Alleine sterben, ganz im Weiß, vor antiseptischer Kulisse.
Oder man wird zum hoffnungslosen Fall erklärt. Eine Behandlung wäre sinnlos. Dann führt der Weg in den Tod, langsam, vielleicht etwas schneller als der Geist es auszudrücken vermag, von einer Frist umrahmt, die der Arzt kraft seiner Erfahrung ausspricht. In jedem Fall ein Sterben, das von Schmerzmitteln erleichtert werden soll. Vielleicht im eigenen Heim, im Schoß der Familie.

Die Depression ist Anfang oder Ende der Krankheit. Sie stellt das erschöpfte Selbst an die Wand und schaltet es in den Standby-Modus. Mit ein wenig Glück findet ein Arzt die richtige Behandlung, das entscheidende, wirkende Antidepressivum. Anders als es oft von Wissenschaftlern und Ärzten dargestellt wird, ist dies mehr ein kompliziertes Puzzlespiel, in dem nach mehreren Fehlversuchen ein optimales Verfahren gefunden werden muss. Ein Medikament, das jedem Patienten hilft, gibt es nicht. Doch sollte es unerträgliche Nebenwirkungen haben oder gar wieder abgesetzt werden, dann kehrt die Depression zurück. Vielmehr schwankt das Subjekt zurück ins Depressiv-Sein. Denn eine Depression hat man nicht. Man ist depressiv. Gerade deshalb zieht die Depression unsere Vorstellungen von Krankheit in Zweifel. Sie ist nicht eingrenzbar, nicht mit Symptomen identifizierbar. Sie ist vielmehr undefinierbar!

Jede Depression ist individuell, eigen, andersartig. Höchstens kann man sie einkreisen und dann befeuern. Doch richtet sie sich nicht im Dunklen ein. Sie wirft einen grauen Schleier über das Erleben. Wenn die Depression die Antwort auf ein nicht gelebtes oder wenigstens falsch gelebtes Leben ist, dann müsste sie doch durch ein anderes, ein besseres Leben zu bezwingen sein. Die Depression steht als Metapher für die Unmöglichkeit richtig zu leben ein. Sie tut dies selbst dann, wenn man ihre Entstehung rein bio-chemisch erklären möchte. Sie stellt radikal die Wahl der Lebenswege in Frage. Denn gerade die Vielzahl der Wege, die angeblichen Freiheiten eines individuell zu führenden Lebens (die pathetisch sogar die Wahl einer Identität vorgaukeln),
machen das Individuum depressiv. Die Unfähigkeit zu wählen, die Angst vor der Freiheit, die Tücken des Selbst-Bewusstseins sind Ursachen für dieses Gebrechen.

Die Depression zu verscheuchen ist nicht mehr möglich.

In einer von permanentem Wachstum der Ressourcen und des Wissens beschleunigten Gesellschaft verlangsamt die Depression Körper und Geist. Sie ist keine Warnung mehr, sondern Konsequenz. Depression ist nicht heilbar. Wer depressiv ist, kann nur vom Depressivsein kuriert werden, in dem er zu einem anderen Menschen gemacht wird. Mittels Therapie und Medikamenten wird das erschöpfte Selbst stillgelegt. Damit verschwindet die Erschöpfung, es verschwindet aber auch das Selbst.
Die Depression ist ein Wahnsinn im herkömmlichen Sinne des Wortes. Sie agiert aber am anderen Ende der Skala als die meisten Formen des Wahnsinns. Sie bietet kein Übermaß des Erlebens, sondern ein mangelhaftes Erleben. Der Depressive ist nicht mehr in der Lage sich zu freuen und zu trauern, weil er nur noch seine Freude und seine Trauer kennt. Er sitzt mit sich selbst gefangen in einer Zelle. Was könnte schlimmer sein?

All die Therapieerfolge der letzten Jahrzehnte, die vielen hoffnungsvollen Nachrichten, können nicht verdecken, dass die Medizin an dieser Krankheit scheitert. Sie scheitert an der Krankheit des Scheiterns. Sie scheitert, weil sie symptomorientiert ist, weil sie eigentlich keine Menschen heilen kann, sondern lebende Maschinen reparieren will. Die Medizin findet keinen Weg ins Labyrinth der Depression, weil ihre Anamnese ein technokratisch-logischer Blick auf Strukturen des Äußeren ist. Mit Begriffen wie Burn-Out-Syndrom versucht man dem Schrecken ein von der Gesellschaft tolerierbares Modell entgegenzuhalten. Aber ist der Depressive nicht erst unter der Last seines Lebens zusammengebrochen, weil er nicht in der Lage war zu brennen?

Die Depression ist wie Krebs die Krankheit eines Individuums. Wenn eine Krebserkrankung auch psychische Folgen mit sich führt, die für das Umfeld – für die Gesellschaft – eine Belastung sind, also Sorge, Angst, Trauer, vielleicht auch Hass bedeuten, gilt für die Depression, dass sie in ihrer radikalen Dekonstruktion eines funktionierenden, vielmehr aber eines produktiven Lebens all die Menschen infiziert, die sich um den depressiven Patienten kümmern wollen oder müssen. Hier hat die Depression ähnliche Folgen wie eine Suchterkrankung. Sie produziert Co-Abhängigkeit.

Tatsächlich steht die Depression mit der Sucht in einer schicksalhaften Verwandtschaft. In aller Regel führen Suchterkrankungen geradewegs in die Depression. Die Struktur der Sucht ist allerdings kein Indikator für die Möglichkeit einer depressiven Erkrankung. Jeder Mensch ist süchtig. Jeder Mensch leidet an irgendeiner Form der Sucht. Sucht ist aber nicht bezwingbar. Es ist höchstens möglich, mit ihr leben zu lernen. Insofern ist die einzige Möglichkeit, eine Sucht zu verhindern, gar nicht erst zur Flasche zu greifen.

Die Sucht ist Folge einer fatalen menschlichen Eigenschaft, die nicht besiegt werden kann. Sie ist Folgeerscheinung des Narzissmus. Der Narzissmus ist Teil des menschlichen Lebens. Er bestimmt das Leben jedes Menschen mit dem ersten Blick in den Spiegel, mit dem ersten Blick auf ein ideales Ich. So wie der (krankhaft) narzisstische Mensch eine Sucht – gleich welcher Art – heraufbeschwört, so wie die Sucht in die Depression führt, so führt die Depression, wenn sie besiegt werden soll, zur nächsten Sucht. Entweder droht Medikamentenabhängigkeit, oder ein ängstlicher Blick auf die Symptome einer zurückkehrenden seelischen Starre begleitet den Menschen ein Leben lang.

Ein glückliches Leben führt wohl nur, wer in der Lage ist, seinen Narzissmus im Zaum zu halten. Eine Gesellschaft, die narzisstischen Strebungen in ungehörigem Maße huldigt, sei es durch vielgestaltige Illusionen einer Selbstverwirklichung, die in Wahrheit gar nicht möglich ist, sei es durch die pervers erzeugte Begierde nach Aufmerksamkeit, fordert das Opfer vieler komatöser Individuen heraus.

Um das Burn-Out-Bild ein weiteres Mal zu bedienen, sei darauf hingewiesen, dass der von Stress verzehrte Mensch gerade deshalb möglich ist, weil es einigen gestattet ist, deutlich intensiver zu brennen als anderen.

Die Gesellschaft kann und wird die Depression nicht tolerieren. Über Krebs kann nicht gesprochen werden (weil ihre Ursache aus dem Inneren kommt), es sei denn im windschiefen Modus einer Heilungsgeschichte nach dem Motto: Seht her, ich lebe noch – und das könnt ihr auch. Die Depression hingegen ist stumm. Sie schweigt.

Es kann keine gesellschaftliche Akzeptanz für die Depression geben, weil sie allen Verpflichtungen einer wachsenden, am Wettbewerb orientierten Gesellschaft zuwiderläuft. Sie markiert das Scheitern, sie betont das Schwache und Hilflose. Die Depression ist ein Makel. Der Krebskranke kann seinen Tumor immer noch als eine Beleidigung für seinen freien Körper und Geist stigmatisieren. Der Depressive ist dazu nicht mehr in der Lage.

Krebs ist in erster Linie eine medizinische Herausforderung, Depression hingegen fordert die Gesellschaft heraus. Sie verlangt danach, über die Bedingungen eines gelungenen Lebens nachzudenken. Sie bedeutet für die Medizin eine ungeheure Kränkung, denn sie stellt die Medizingeschichte des Abendlandes auf eine harte Probe. Die Depression macht krank, und ist doch keine Krankheit im herkömmlichen Sinne. Die Depression verlangt aber auch vom Patienten einen jahrhundertealten Irrtum aufzugeben: Heilung bedeutet nicht, irgendeinen Knopf im menschlichen Köper zu aktivieren, damit dieser sich wieder in den gesunden Ausgangszustand zurückentwickeln kann. Ein geheilter depressiver Mensch ist ein anderer Mensch geworden.

Weit über die medizinische Rolle hinaus spielt die Depression eine wichtige Bedeutung in der Frage, ob es möglich ist, von kranken und gesunden Gesellschaften zu reden. Ganz freudomarxistisch muss dem so genannten Kapitalismus der Vorwurf gemacht werden, er produziere eigentlich eine kranke, erschöpfte Gesellschaft. Er verschleißt seine Produktionsträger, um ein größeres Wirtschaftswachstum zu erreichen. Er erreicht aber ein negatives Wachstum in Körper und Seele der Menschen.

Die Depression hat aber noch andere, kaum sichtbare Folgen. Versteht man sie in einem vergrößerten Maßstab als gesellschaftliche Erkrankung, die das bewusste Erleben der Menschen beeinflusst, dann kann man auch von einem depressiven Denken, oder zumindest von einem depressiven Sprechen reden.

Der oftmals zitierte depressive Realismus, der den Depressiven Dinge klarer sehen lässt als andere, darf in seiner zugleich scharfen wie betäubten Wahrnehmungsidentität durchaus als Paradigma für ein Denken gesehen werden, das in einer hypermodernen Weltsicht unser Handeln bestimmt. Hier artikuliert der Kranke nur das radikal, was für den angeblich Gesunden in eingeschränkter, verschleierter Form selbstverständlich ist. Wie allem destruktiven Wachstum etwas Produktives „anlastet“, so hat auch der depressive Realismus etwas Heilsames an sich. Gerade Berufe, die einen äußerst klaren Blick benötigen, um an den Rändern etwas zu entdecken, wo der gewöhnliche Blick scheitert – man denke nur an Ärzte oder Psychiater, aber auch an Künstler und Wissenschaftler – werden von einem depressiven Realismus zu Ungewöhnlichem beflügelt. Hinter glorreichen Heldentaten vermag die Gesellschaft oft nicht ihre zerrütteten Schöpfer entdecken.

Drei Formen der Kritik bestimmen das Leben eines jeden Menschen in der Gemeinschaft. Ist ein Mensch zu allen drei Ausdrucksformen der Kritik in der Lage, und das heißt in diesem Fall fähig, dann kann man ihn als ein gesundes, produktives Mitglied einer Gesellschaft verstehen. Es handelt sich um Selbstkritik, also eindimensionale Kritik; Fremdkritik, also mehrdimensionale Kritik und Kulturkritik, also multidimensionale Kritik. Während das Individuum zunächst nur zur Fremdkritik fähig ist – weil es als narzisstischer Säugling nur die Realität des Einsseins mit der Mutter kennt und noch kein Selbst entwickelt hat – lernt es bald die Selbstkritik als Methode des eigenen geistigen und menschlichen Wachstums kennen. Je weniger das Individuum dazu in der Lage ist, desto deutlicher sind seine narzisstischen Strebungen. Der narzisstische Mensch ist zur Selbstkritik nicht in der Lage. Er kann paradoxerweise nicht eindimensional denken, weil er nur an sich, an sein Wohl, denkt. Wie bereits beschrieben ist es der krankhafte Narzissmus, der über den Umweg der Sucht (und das heißt natürlich auch über die Selbstsucht!) zur Depression führt. Jeder psychischen Erkrankung liegt eine narzisstische Störung zugrunde. Das bedeutet aber oftmals, dass diese erkrankten Menschen entweder nur noch zu einer gesteigerten Selbstkritik in der Lage sind, oder ihnen die Mittel fehlen, zwischen Selbst- und Fremdkritik zu unterscheiden. Sie sind schließlich nicht mehr in der Lage, überhaupt Kritik zu üben. Sie sind sprachlos.

Wenn man die Depression aber als gesellschaftliche Erkrankung versteht, was auch bedeutet, dass man in ihrer tragischen Wirkung keine Behinderung sieht, dann wird augenscheinlich, dass der Depressive eine entscheidende Kritik nicht mehr zu artikulieren in der Lage ist: Kulturkritik.

Die Depression ist auch deshalb eine gesellschaftliche Krankheit, weil der Depressive nicht mehr Teil der Gesellschaft sein will, sein kann. Er kann Teil einer Gesellschaft sein, aber nicht Teil der Gesellschaft. Das ist auch der Grund, warum die Depression in einem teuflischen Kreislauf der Schuld immer wieder die Frage nach der Notwendigkeit gesellschaftlichen Engagements (und damit ist schon der Schritt vor die Haustür gemeint) stellt. Wenn der Depressive nicht einmal aus dem Bett kommt, wie soll er Fragen an die Gesellschaft stellen? Gerade weil der Depressive Opfer in einer Gesellschaft geworden ist, die keine Rücksicht auf die seelische Gesundheit ihrer Mitglieder nimmt, kann er keine Kritik an ihrer Logik, an ihrer Systematik anbringen. Er bleibt stumm. Er schweigt mit seiner Krankheit. Er schweigt durch seine Krankheit.

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