Zeitenwende (1)
Das Jahr 2009 neigt sich dem Ende zu, und wenn man sich auf die merkwürdige Gepflogenheit einlässt, die der Sprung ins neue Millenium mit sich brachte – nämlich die Nuller-Jahre auch zum jeweils neuen Jahrzehnt, Jahrhundert, Jahrtausend hinzuzuaddieren –, dann endet am 31. Dezember auch das erste Jahrzehnt dieses neuen Jahrhunderts.
War es ein gutes oder ein schlechtes Jahrzehnt? Kann man das im Dezember 2009 schon sagen, oder begibt man sich in die Falle der Medienauguren, die zuverlässig den Jahresverlauf schon viel zu früh verklären und den Blick auf die Zukunft möglichst rasch und symbolträchtig erklären wollen?
Wenn man Geschichte nicht als Diskurskonstrukt sieht, dann muss uns das dräuende fin de millénaire etwas erzählen. Es müsste von Bewegung und Veränderung sprechen, weil wir nicht nur unserer Zeitrechnung gemäß am Anfang einer neuen (geistigen, wissenschaftlichen, ja sogar künstlerischen) Epoche stehen. Hatten einige schon vom Ende der Geschichte gesprochen – und nichts anderes postuliert die Postmoderne, um dieses so gräuliche Wort zu benutzen, das in der Theorie wie der Deckel für einen brodelnden Topf mit heißem Wasser genutzt wird –, so müssten sie sich heute ihren Irrtum eingestehen. Langsam aber doch zunehmend deutlicher wird an der Peripherie des Gesellschaftlichen so etwas wie ein hypermodernes Subjektbewusstsein deutlich, das von der Existenz einer Subjektstruktur oder eines letztlich existierenden Subjekts nicht Zeugnis abliefert, wohl aber von einem Bewusstsein, das sich mit der eigenen, angenommenen Fragilität des Ichs herausbildet. Das erodierende Ich hat die Bühne der Weltläufe betreten. Es verspürt den diffusen Druck, sich für die eigene Existenz immer wieder rechtfertigen zu müssen. Es ist sich seiner Ziele und vor allem seiner Hoffnungen nicht mehr sicher. Es lebt mit der Furcht, dass es die hohen Erwartungen, die an es gestellt werden, vielleicht nicht erfüllen kann. Seine Angst vor dem Abstieg ist größer als die Hoffnung auf einen Aufstieg. Es hat eine Ahnung von vergangenen Stärken. Mehr als eine Ahnung ist es aber nicht.
Es ist zunächst irrelevant, wie man diese Ausgangsposition deutet. Sie ist im Zuge einer irreversiblen und nur wenig sichtbaren Umwälzung des Geistes in einem sich stetig wandelnden Prozess. Ein Ende dieses Prozesses mithilfe prophetischer Betrachtung düster zu akklamieren bzw. vorzeitig zu deuten wäre eine Orwellsche Fehlleistung. Gerade die Dynamik dieser Entwicklung, die es so schwer macht, dieser Bewegung des Geistes zu folgen und ihr einen Namen zu geben, ist des Pudels Kern. Darin versteckt sich so etwas wie Folgerichtigkeit.
Das Bonmot von dem beschleunigten Leben, von der veloziferischen Zeit, ist kein Sprachspiel. Die Essenz geistigen Erlebens ist heute Rasanz. Nur die Bewegung zählt.
In der Bewegung zerreibt sich der Sinn. In der Bewegung gelangt man zu einem Ziel, das aber niemals feststeht. Wachstum heißt bewegen. Fühlen heißt bewegt werden. Krise heißt abwärts gehen.
Wenn die Geschichte irgendeine Kontinuität kennt, dann ist es Dialektik.
Gerade jene, die unser Leben scheinbar bewusst begleiten, es meinungsstark prägen, sind in der vielleicht schwierigsten Krise ihres Bestehens. Dabei bedürften wir ihrer nun am Stärksten. Ein Jahrhundertlang, und noch einige Jahre mehr, haben Zeitungen und Zeitschriften unser Verständnis von Politik und Gesellschaft geprägt. Ein halbes Jahrtausend, vielleicht noch ein wenig mehr, hat die Schrift unser Verständnis von Sein und Zeit entwickelt. Sie hat die mündliche Überlieferung, die Rede, konsequent und nicht friedlich abgelöst. Sie hat Wahrheiten geschaffen. Irgendwann kamen die Bilder, denen wir seit Platon misstrauen, und veränderten unser Denken. Der fatale Irrtum, dass die Buchstaben den Bildern schon etwas entgegenzuhalten hätten, ließ sich nicht erst mit dem Aufkommen bewegter Bilder bezeugen. Die Laterna Magica zeichnete eine eigene Geschichte des Menschen an die Leinwand. Jedes neue Medium enthält das Potenzial zur Befreiung und zur Verknechtung des Individuums. Nur ist dies keine Frage der Abwägung. Gerade die Dialektik dieses Mechanismus ist der Ursprung der Macht der Medien.
Mittels der Schrift konnte eine Bildungselite erfolgreich die Bedingungen menschlichen Bewusstseins diktieren. Ethik ist ein Konstrukt der Schrift. Moral ist es nicht. Bilder haben eine größere Moral als jede Schrift; sie sind unbewusst verständlich. Ihnen wohnt ein Zauber inne, der der Schrift abgeht.
Es braucht keinen Propheten, um die Bedeutung des (bewegten) Bildes für die Ausgangslage des Menschen zum Beginn des 21. Jahrhunderts zu erahnen. Einige Denker von Benjamin über McLuhan bis zu Baudrillard und Kittler haben zugenüge auf die medientheoretischen Konsequenzen hingewiesen. Die unendliche Furcht, die man vor den Bildmedien zu haben behauptet, ist hingegen verlogen. Längst ist das Verdikt, dass man den Bildern zu misstrauen habe, Teil des Bilddiskurses. So recht will daran nur niemand glauben. Das digitale Zeitalter, das seine ideologischen Ursprünge im Analogen nicht verschleiern kann (tatsächlich markiert die Montage den Anfang), ist erst mit dem Bewusstsein der Aufhebung jedes technischen Vermittlers entstanden. Die dadurch entstandene Unabhängigkeit ist eine revolutionäre. Nicht die Frage nach der Fälschung bestimmt unser Denken, sondern inwiefern die Fälschung an sich unser Leben bestimmt. Das Bild auf dem Titelblatt: Es ist gefälscht. Das Bild im Fernsehen: manipuliert. Die diabolische Frage für den Bildtechniker lautet immer: Warum soll ich die Mangelhaftigkeit des Bildes akzeptieren, wenn ich doch die Möglichkeit dazu habe, sie beseitigen zu können? Diese Fragestellung stand aber nur zu Beginn im Raum des digitalen Arrangierens von Bildmaterial. Nun geht es nicht mehr nur um die Möglichkeit, sondern um die Notwendigkeit der Weiterverarbeitung. Die Modefotografie mag als sinnfälligstes Beispiel für diesen Teufelskreis angesehen werden, denn sie inszeniert seit jeher ihre Modelle lebensfern. Nun aber ist gerade die gegenteilige, also blasse, natürliche, angeblich wirklichkeitsnahe Inszenierung zu einem weiteren Werbetrick geworden. Sie wird genauso klug inszeniert wie die glamouröse Gegenvariante. Sie behauptet Natürlichkeit, wo doch nur inszeniert worden ist.
Die Inszenierung verkommt zur Simulation. Sie hat keinen künstlerischen Zweck mehr, sondern ist bloßes Kalkül. Es ist nicht mehr nötig ins Fußballstadion zu gehen. Es gibt Fernsehen oder noch wirkungsvoller: Public Viewing. Wozu sollte man noch ins Kino gehen, es gibt DVD- und Blu-Ray-Player, dazu kinoleinwandgroße Flachbildfernseher. Ganze Bildbibliotheken werden mit Digitalkameras erstellt. Es gibt kein Ereignis, das nicht festgehalten werden kann. You Tube liefert Videos längst vergangener Zeiten praktisch und mit einem Mausklick auf den Bildschirm. Aber auch das sind nur Simulationen. Das Video, das bewegte Bild, wird in diesen Zeiten selbst simuliert.
Amateurpornographie simuliert die Videopornographie und löst – obwohl sie ihren Machern kaum Geld bringen dürfte – die massenkompatible Bezahlversion einfach ab. Wer nun frech die Frage stellt, ob sich hier nicht die Konsumenten über die Produzenten erheben und Natürlichkeit gegen Inszenierung eintauschen, der missversteht die Machtwirkung der Bilder auf ihre Rezipienten. Natürlich könnte man in der selbstbewussten Bebilderung des eigenen Liebeslebens eine sexuelle Befreiung von den Seh-Zwängen der harten Pornographie und der weich gezeichneten Softerotik vermuten. Noch aber überwiegen die simple Reanimation des zuvor auf dutzenden Videos Gesehenen und die nachträgliche Versendung des Videomaterials durch einen frustrierten, meist männlichen Ex-Partner. Die Amateur-Sexfilmchen im Internet sind meistens keine Choreographie der Liebe mehr. Sie sind allenfalls ein narzisstisches Ereignis für den Amateurregisseur, der sich seiner Inszenierungskunst rühmen kann. Simulierte Amateurpornographie mit professionellen Pornodarstellern dürfte dieser Entwicklung ebenso ironisch entsprechen. Dabei könnte die Amateurpornographie doch ein Freiheitsversprechen einlösen. Die rigiden Vorstellungen der Gesetzeshüter, die in der Pädophilie die letzte Todsünde des Menschen vermuten, wollen mit Hilfe des Gesetzes auch die Darstellung jugendlicher Sexualität verbieten. Das Bildverbot, das allen Menschen unter 18 Jahren untersagt, pornographisches Material zu sehen und auch Teil einer sexuellen Darstellung zu sein, ist in einer Welt, in der die mediale Selbstdarstellung (also auch die der eigenen Sexualität) Teil der Identitätsentwicklung ist, ein Hindernis, das durch die nicht mehr zählbaren Filesharing-Börsen und Internetforen überwunden werden kann. Es kann gar nicht so viele Zensoren geben wie es Teenager gibt, die ihre intimsten Erlebnisse für alle Neugierigen zur Schau stellen. Die Frage ist nur, ob dieses geschickte Spiel mit den Medienversprechen unserer Zeit auch wirklich eine neue Freiheit schenkt, oder ob in der Mimesis der pornographischen Bildgesetze, die vor allem die Befriedigung des männlichen Masturbators in den Mittelpunkt stellen, nur der alte Geist der Vollerotik wieder beschworen wird, der sich bis hin zum Gonzo-Porno einer immer drastischeren Darstellungsgewalt bedient, um die vielgestaltigen Vorlieben seiner Kunden zu bedienen.
Das Fernsehen, dieses angeblich demokratischste aller Medien, hat den Weg bereitet fürs Internet. Nicht das, was der Autor erzählt, ist entscheidend, sondern was der Zuschauer verlangt. Diese marktradikale und in ihren Grundzügen gerade nicht demokratische Gesinnung hat sich auf alle Medientypen übertragen. Die globalisierte Produktionsgesellschaft kann – nun oftmals von immensen Kosten der Vergangenheit befreit und durch digitale Betriebskanäle begünstigt – im Trial-And-Error-Prinzip ausprobieren, was es will. Letztlich wird nur weiterentwickelt, was beim Endkunden Erfolg verspricht. Die wahnwitzige Fixierung der Fernsehmacher auf Quoten, der demütige Blick der Zeitungs- und Zeitschriftenmacher auf Auflagen (und die damit verbundenen Werbepreise), die zielgruppenhörige Ausgabe von Kinogeldern für dummdreiste Unterhaltungsproduktionen haben hier ihren Anfang. Nichts wird produziert, ohne vorher jemanden um Erlaubnis gefragt zu haben.
Das Internet, das zunächst keine staatlichen Fördergelder kannte und seine angebliche ideologische Unabhängigkeit auch nun, wo es unter Beschuss der Juristen dieser Welt steht, unter allen Umständen zu bewahren sucht, funktioniert nur mit den Werbegeldern, die früher in den Zeitungen und im Fernsehprogramm steckten. Bezahlt wird mit Klicks. Und der Informationsgehalt ist genau deshalb ohne Wert. Wenn sich das Internet als Informationsmedium wirklich durchsetzen sollte, was nicht ohne die Informationselite der Journaille geht – die allerdings ihr Monopol längst im Netz errichtet hat –, dann wird sich aufgrund dieser Bedingungen ein Wettbewerb um die Relevanz von Informationen entwickeln. Natürlich wird eine Bildstrecke mit Nacktmodels oder mit den 99 beliebtesten Haustieren öfter angeklickt werden. Und nicht nur das ist entscheidend. Die gedruckten Medien konnten mit ihrem Angebot verschiedenartigen Lesern gerecht werden. Der eine liest vorwiegend Politisches, der nächste Wirtschaftliches und Wissenschaftliches, ein anderer liebt Klatsch und Tratsch und noch einmal andere interessieren sich für Kulturelles. Es wird immer das Gesamtpaket Zeitung/Zeitschrift/Buch etc. angeschafft. Nun bietet eine Website Einzelinhalte und diese werden zwar nicht gekauft, aber mithilfe von Klicks erlesen. Sollten sich einige Inhalte nicht bewähren, könnten sie auf den Prüfstand geraten, denn jede Information wird mit einer Klickzahl auf ihre Relevanz bzw. Massenkompatibilität geprüft.
Nur ein Narr könnte die Etablierung eines neuartigen Wissensdiskurses über das Internet als Fortführung eines altbewährten Informationsstils mit besseren Rahmenbedingungen missverstehen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit löst ein Wissensdiskurs einen Bildungsdiskurs ab. Die Folgen dieser Transformation sind heuer noch nicht erkennbar.
Der Konsument wird in einem viel unbequemeren Maße zum König der Konsumption, als er sich das je hätte erträumen können. Die Auswahl könnte ihn erdrücken, wenn er nicht zielstrebig genau danach suchen würde, was man ihm als interessant vorschlägt. Die beliebten Produktinformationen bei Amazon, die angeben, was Käufer eines Produktes noch des Weiteren erworben haben, wären eine große Auswahlhilfe, die wirklich neues Interesse wecken könnte, wenn sie nicht selbst jene Grundlage kulturkritischen Denkens unterminieren würde, die erst Voraussetzung für Interesse ist.
War es ein gutes oder ein schlechtes Jahrzehnt? Kann man das im Dezember 2009 schon sagen, oder begibt man sich in die Falle der Medienauguren, die zuverlässig den Jahresverlauf schon viel zu früh verklären und den Blick auf die Zukunft möglichst rasch und symbolträchtig erklären wollen?
Wenn man Geschichte nicht als Diskurskonstrukt sieht, dann muss uns das dräuende fin de millénaire etwas erzählen. Es müsste von Bewegung und Veränderung sprechen, weil wir nicht nur unserer Zeitrechnung gemäß am Anfang einer neuen (geistigen, wissenschaftlichen, ja sogar künstlerischen) Epoche stehen. Hatten einige schon vom Ende der Geschichte gesprochen – und nichts anderes postuliert die Postmoderne, um dieses so gräuliche Wort zu benutzen, das in der Theorie wie der Deckel für einen brodelnden Topf mit heißem Wasser genutzt wird –, so müssten sie sich heute ihren Irrtum eingestehen. Langsam aber doch zunehmend deutlicher wird an der Peripherie des Gesellschaftlichen so etwas wie ein hypermodernes Subjektbewusstsein deutlich, das von der Existenz einer Subjektstruktur oder eines letztlich existierenden Subjekts nicht Zeugnis abliefert, wohl aber von einem Bewusstsein, das sich mit der eigenen, angenommenen Fragilität des Ichs herausbildet. Das erodierende Ich hat die Bühne der Weltläufe betreten. Es verspürt den diffusen Druck, sich für die eigene Existenz immer wieder rechtfertigen zu müssen. Es ist sich seiner Ziele und vor allem seiner Hoffnungen nicht mehr sicher. Es lebt mit der Furcht, dass es die hohen Erwartungen, die an es gestellt werden, vielleicht nicht erfüllen kann. Seine Angst vor dem Abstieg ist größer als die Hoffnung auf einen Aufstieg. Es hat eine Ahnung von vergangenen Stärken. Mehr als eine Ahnung ist es aber nicht.
Es ist zunächst irrelevant, wie man diese Ausgangsposition deutet. Sie ist im Zuge einer irreversiblen und nur wenig sichtbaren Umwälzung des Geistes in einem sich stetig wandelnden Prozess. Ein Ende dieses Prozesses mithilfe prophetischer Betrachtung düster zu akklamieren bzw. vorzeitig zu deuten wäre eine Orwellsche Fehlleistung. Gerade die Dynamik dieser Entwicklung, die es so schwer macht, dieser Bewegung des Geistes zu folgen und ihr einen Namen zu geben, ist des Pudels Kern. Darin versteckt sich so etwas wie Folgerichtigkeit.
Das Bonmot von dem beschleunigten Leben, von der veloziferischen Zeit, ist kein Sprachspiel. Die Essenz geistigen Erlebens ist heute Rasanz. Nur die Bewegung zählt.
In der Bewegung zerreibt sich der Sinn. In der Bewegung gelangt man zu einem Ziel, das aber niemals feststeht. Wachstum heißt bewegen. Fühlen heißt bewegt werden. Krise heißt abwärts gehen.
Wenn die Geschichte irgendeine Kontinuität kennt, dann ist es Dialektik.
Gerade jene, die unser Leben scheinbar bewusst begleiten, es meinungsstark prägen, sind in der vielleicht schwierigsten Krise ihres Bestehens. Dabei bedürften wir ihrer nun am Stärksten. Ein Jahrhundertlang, und noch einige Jahre mehr, haben Zeitungen und Zeitschriften unser Verständnis von Politik und Gesellschaft geprägt. Ein halbes Jahrtausend, vielleicht noch ein wenig mehr, hat die Schrift unser Verständnis von Sein und Zeit entwickelt. Sie hat die mündliche Überlieferung, die Rede, konsequent und nicht friedlich abgelöst. Sie hat Wahrheiten geschaffen. Irgendwann kamen die Bilder, denen wir seit Platon misstrauen, und veränderten unser Denken. Der fatale Irrtum, dass die Buchstaben den Bildern schon etwas entgegenzuhalten hätten, ließ sich nicht erst mit dem Aufkommen bewegter Bilder bezeugen. Die Laterna Magica zeichnete eine eigene Geschichte des Menschen an die Leinwand. Jedes neue Medium enthält das Potenzial zur Befreiung und zur Verknechtung des Individuums. Nur ist dies keine Frage der Abwägung. Gerade die Dialektik dieses Mechanismus ist der Ursprung der Macht der Medien.
Mittels der Schrift konnte eine Bildungselite erfolgreich die Bedingungen menschlichen Bewusstseins diktieren. Ethik ist ein Konstrukt der Schrift. Moral ist es nicht. Bilder haben eine größere Moral als jede Schrift; sie sind unbewusst verständlich. Ihnen wohnt ein Zauber inne, der der Schrift abgeht.
Es braucht keinen Propheten, um die Bedeutung des (bewegten) Bildes für die Ausgangslage des Menschen zum Beginn des 21. Jahrhunderts zu erahnen. Einige Denker von Benjamin über McLuhan bis zu Baudrillard und Kittler haben zugenüge auf die medientheoretischen Konsequenzen hingewiesen. Die unendliche Furcht, die man vor den Bildmedien zu haben behauptet, ist hingegen verlogen. Längst ist das Verdikt, dass man den Bildern zu misstrauen habe, Teil des Bilddiskurses. So recht will daran nur niemand glauben. Das digitale Zeitalter, das seine ideologischen Ursprünge im Analogen nicht verschleiern kann (tatsächlich markiert die Montage den Anfang), ist erst mit dem Bewusstsein der Aufhebung jedes technischen Vermittlers entstanden. Die dadurch entstandene Unabhängigkeit ist eine revolutionäre. Nicht die Frage nach der Fälschung bestimmt unser Denken, sondern inwiefern die Fälschung an sich unser Leben bestimmt. Das Bild auf dem Titelblatt: Es ist gefälscht. Das Bild im Fernsehen: manipuliert. Die diabolische Frage für den Bildtechniker lautet immer: Warum soll ich die Mangelhaftigkeit des Bildes akzeptieren, wenn ich doch die Möglichkeit dazu habe, sie beseitigen zu können? Diese Fragestellung stand aber nur zu Beginn im Raum des digitalen Arrangierens von Bildmaterial. Nun geht es nicht mehr nur um die Möglichkeit, sondern um die Notwendigkeit der Weiterverarbeitung. Die Modefotografie mag als sinnfälligstes Beispiel für diesen Teufelskreis angesehen werden, denn sie inszeniert seit jeher ihre Modelle lebensfern. Nun aber ist gerade die gegenteilige, also blasse, natürliche, angeblich wirklichkeitsnahe Inszenierung zu einem weiteren Werbetrick geworden. Sie wird genauso klug inszeniert wie die glamouröse Gegenvariante. Sie behauptet Natürlichkeit, wo doch nur inszeniert worden ist.
Die Inszenierung verkommt zur Simulation. Sie hat keinen künstlerischen Zweck mehr, sondern ist bloßes Kalkül. Es ist nicht mehr nötig ins Fußballstadion zu gehen. Es gibt Fernsehen oder noch wirkungsvoller: Public Viewing. Wozu sollte man noch ins Kino gehen, es gibt DVD- und Blu-Ray-Player, dazu kinoleinwandgroße Flachbildfernseher. Ganze Bildbibliotheken werden mit Digitalkameras erstellt. Es gibt kein Ereignis, das nicht festgehalten werden kann. You Tube liefert Videos längst vergangener Zeiten praktisch und mit einem Mausklick auf den Bildschirm. Aber auch das sind nur Simulationen. Das Video, das bewegte Bild, wird in diesen Zeiten selbst simuliert.
Amateurpornographie simuliert die Videopornographie und löst – obwohl sie ihren Machern kaum Geld bringen dürfte – die massenkompatible Bezahlversion einfach ab. Wer nun frech die Frage stellt, ob sich hier nicht die Konsumenten über die Produzenten erheben und Natürlichkeit gegen Inszenierung eintauschen, der missversteht die Machtwirkung der Bilder auf ihre Rezipienten. Natürlich könnte man in der selbstbewussten Bebilderung des eigenen Liebeslebens eine sexuelle Befreiung von den Seh-Zwängen der harten Pornographie und der weich gezeichneten Softerotik vermuten. Noch aber überwiegen die simple Reanimation des zuvor auf dutzenden Videos Gesehenen und die nachträgliche Versendung des Videomaterials durch einen frustrierten, meist männlichen Ex-Partner. Die Amateur-Sexfilmchen im Internet sind meistens keine Choreographie der Liebe mehr. Sie sind allenfalls ein narzisstisches Ereignis für den Amateurregisseur, der sich seiner Inszenierungskunst rühmen kann. Simulierte Amateurpornographie mit professionellen Pornodarstellern dürfte dieser Entwicklung ebenso ironisch entsprechen. Dabei könnte die Amateurpornographie doch ein Freiheitsversprechen einlösen. Die rigiden Vorstellungen der Gesetzeshüter, die in der Pädophilie die letzte Todsünde des Menschen vermuten, wollen mit Hilfe des Gesetzes auch die Darstellung jugendlicher Sexualität verbieten. Das Bildverbot, das allen Menschen unter 18 Jahren untersagt, pornographisches Material zu sehen und auch Teil einer sexuellen Darstellung zu sein, ist in einer Welt, in der die mediale Selbstdarstellung (also auch die der eigenen Sexualität) Teil der Identitätsentwicklung ist, ein Hindernis, das durch die nicht mehr zählbaren Filesharing-Börsen und Internetforen überwunden werden kann. Es kann gar nicht so viele Zensoren geben wie es Teenager gibt, die ihre intimsten Erlebnisse für alle Neugierigen zur Schau stellen. Die Frage ist nur, ob dieses geschickte Spiel mit den Medienversprechen unserer Zeit auch wirklich eine neue Freiheit schenkt, oder ob in der Mimesis der pornographischen Bildgesetze, die vor allem die Befriedigung des männlichen Masturbators in den Mittelpunkt stellen, nur der alte Geist der Vollerotik wieder beschworen wird, der sich bis hin zum Gonzo-Porno einer immer drastischeren Darstellungsgewalt bedient, um die vielgestaltigen Vorlieben seiner Kunden zu bedienen.
Das Fernsehen, dieses angeblich demokratischste aller Medien, hat den Weg bereitet fürs Internet. Nicht das, was der Autor erzählt, ist entscheidend, sondern was der Zuschauer verlangt. Diese marktradikale und in ihren Grundzügen gerade nicht demokratische Gesinnung hat sich auf alle Medientypen übertragen. Die globalisierte Produktionsgesellschaft kann – nun oftmals von immensen Kosten der Vergangenheit befreit und durch digitale Betriebskanäle begünstigt – im Trial-And-Error-Prinzip ausprobieren, was es will. Letztlich wird nur weiterentwickelt, was beim Endkunden Erfolg verspricht. Die wahnwitzige Fixierung der Fernsehmacher auf Quoten, der demütige Blick der Zeitungs- und Zeitschriftenmacher auf Auflagen (und die damit verbundenen Werbepreise), die zielgruppenhörige Ausgabe von Kinogeldern für dummdreiste Unterhaltungsproduktionen haben hier ihren Anfang. Nichts wird produziert, ohne vorher jemanden um Erlaubnis gefragt zu haben.
Das Internet, das zunächst keine staatlichen Fördergelder kannte und seine angebliche ideologische Unabhängigkeit auch nun, wo es unter Beschuss der Juristen dieser Welt steht, unter allen Umständen zu bewahren sucht, funktioniert nur mit den Werbegeldern, die früher in den Zeitungen und im Fernsehprogramm steckten. Bezahlt wird mit Klicks. Und der Informationsgehalt ist genau deshalb ohne Wert. Wenn sich das Internet als Informationsmedium wirklich durchsetzen sollte, was nicht ohne die Informationselite der Journaille geht – die allerdings ihr Monopol längst im Netz errichtet hat –, dann wird sich aufgrund dieser Bedingungen ein Wettbewerb um die Relevanz von Informationen entwickeln. Natürlich wird eine Bildstrecke mit Nacktmodels oder mit den 99 beliebtesten Haustieren öfter angeklickt werden. Und nicht nur das ist entscheidend. Die gedruckten Medien konnten mit ihrem Angebot verschiedenartigen Lesern gerecht werden. Der eine liest vorwiegend Politisches, der nächste Wirtschaftliches und Wissenschaftliches, ein anderer liebt Klatsch und Tratsch und noch einmal andere interessieren sich für Kulturelles. Es wird immer das Gesamtpaket Zeitung/Zeitschrift/Buch etc. angeschafft. Nun bietet eine Website Einzelinhalte und diese werden zwar nicht gekauft, aber mithilfe von Klicks erlesen. Sollten sich einige Inhalte nicht bewähren, könnten sie auf den Prüfstand geraten, denn jede Information wird mit einer Klickzahl auf ihre Relevanz bzw. Massenkompatibilität geprüft.
Nur ein Narr könnte die Etablierung eines neuartigen Wissensdiskurses über das Internet als Fortführung eines altbewährten Informationsstils mit besseren Rahmenbedingungen missverstehen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit löst ein Wissensdiskurs einen Bildungsdiskurs ab. Die Folgen dieser Transformation sind heuer noch nicht erkennbar.
Der Konsument wird in einem viel unbequemeren Maße zum König der Konsumption, als er sich das je hätte erträumen können. Die Auswahl könnte ihn erdrücken, wenn er nicht zielstrebig genau danach suchen würde, was man ihm als interessant vorschlägt. Die beliebten Produktinformationen bei Amazon, die angeben, was Käufer eines Produktes noch des Weiteren erworben haben, wären eine große Auswahlhilfe, die wirklich neues Interesse wecken könnte, wenn sie nicht selbst jene Grundlage kulturkritischen Denkens unterminieren würde, die erst Voraussetzung für Interesse ist.