Gegen Gezwitscher
Es wäre ein Leichtes, diesen Text mit einer kurzen Nachricht beginnen zu lassen, die nicht mehr als 140 Zeichen hat. Es wäre aber schwer, mit diesen 140 Zeichen etwas Sinnvolles auszudrücken.
Die neuste Sau, die durchs digitale Dorf getrieben wird, heißt Twitter. Man kann dem Dienst bescheinigen, dass seine Originalität darin besteht, keinerlei Originalität zu besitzen. In kurzen Sätzen kann man dort der erstaunten Welt kundtun, was man gerade denkt, isst, spielt, hofft, glaubt – was man an Erkenntnissen gewonnen und an Zeit im Leben verloren hat. Eine Anmeldung reicht, dann rauschen die Kurzmeldungen über den Bildschirm. Mehr bietet Twitter nicht, weniger aber anscheinend auch nicht, um als Randerscheinung im Evolutionswettbewerb der (vermeintlich) sozialen Massenmedien unterzugehen.
Kein historisches Ereignis der nächsten Zeit wird mehr ohne Twitter auskommen. Es wird in Zeitungen stehen oder auf Websites der Zeitungen oder in Blogs der Autoren der Website dieser Zeitungen: schon einige Sekunden danach, man setze hier ein beliebiges Ereignis ein, stand es bei Twitter. Von einem gewieften User schnell gepostet, um der Welt mitzuteilen, was wichtig ist, gleich neben Sätzen wie: Bin gerade mal für kleine Jungs oder Habe mir gerade eine Tütensuppe zubereitet. So durfte sogar der neue, alte Bundespräsident, Horst Köhler, Minuten vor der Bekanntgabe seiner Wiederwahl über Twitter vernehmen.
Nun ja, man kann solch einer Beschleunigung von Informationen einen gewissen Faszinationswert nicht aberkennen. Im Gegenteil: durch die schnellstmögliche Verarbeitung von Eindrücken ermöglicht Twitter eine potentielle emotionale Anteilnahme an den Zeitläuften dieser Welt. Denn wenn neben Spaghettisaucenrezepten und Links zu Strickanleitungen eine kurze Meldung erscheint, die von einer großen Begebenheit berichtet, dann gewinnt diese gerade durch die Vernetzung mit dem alltäglichen Unfug eine besondere emotionale Färbung.
Twitter ist aber auch das neuste Werkzeug zur Verkürzung und vor allem zur Vereinfachung von Sprache und Gedanken. Es bietet sich als Raum für Blödheiten genauso an wie als Spam-System.
Ohne die jüngere, rasend voranschreitende Kommunikationstechnologiegeschichte wäre Twitter nicht zu verstehen. Das Internet hat Informationsverarbeitung revolutioniert. Die E-Mail hat den Brief weiterentwickelt – und das Schreiben zugleich erleichtert und erschwert. In Sekundenschnelle kann nun Erfreuliches und weniger Erfreuliches weitergeleitet werden. Aber je mehr Menschen sich in diese Welt der Vernetzung wagten, desto größer wurde der Drang, Informationen noch schneller, noch konziser zu verarbeiten. Die wohlgesetzte Schriftsprache des Briefes – in ihrer bald historischen Bedeutung erst durch die E-Mail als etwas Eigentümliches, zur Form zwingendes herausgestellt – löste sich in den abertrilliarden elektronischen Nachrichten langsam aber sicher in ihre Bestandteile auf. Übrig geblieben ist ein Rumpf von Zeichen und notwendigen Stilformeln, die allesamt austauschbar erscheinen. Wer Lust hat, schreibt alle Buchstaben klein. Wen es Zeit kostet, an mehrere Menschen ein und dieselbe Nachricht zu schicken (und sie entsprechend anders für einen Freund als für einen Arbeitskollegen zu artikulieren), der sendet einfach eine an alle. Weil E-Mails für jeden da sind, werden sie für Fremde und Freunde gleich schlampig verfasst. Immerhin böte das Internet die Möglichkeit – je nach Mailserver – unendlich lange Nachrichten zu schicken. Dem traditionellen Briefeschreiber geht entweder das Papier aus oder ihm werden die Briefpapierbögen zu teuer.
Anders verhält es sich mit der SMS. Eigentlich nur als Nebenprodukt fürs mobile Telefonieren eingerichtet, hat sich das Simsen als vornehmlich äußerst persönliche Möglichkeit der schnellen, ebenfalls verkürzten aber wegen seiner privaten Form umso dringlicheren Informationsverbreitung bewehrt. Die Kurzmitteilung per Telefon ist so sehr in unseren Alltag integriert, dass es sich nur einstmals um eine interessante Anekdote handelte, als verlautbart wurde, dass selbst die deutsche Kanzlerin eifrig herumsimse.
Nun, im Twitterzeitalter, wäre das nicht einmal eine kleine Zeitungsspalte wert. Wer twittert, geht mit dem Zeitgeist. Wer twittert, gibt sich zu erkennen. Früher hätte man gesagt, er wäre in. Das beste Beispiel ist der wegen seines Medieneinsatzes nun schon legendäre Wahlkampf von Barack Obama. Seinem Kontrahenten, der wahrscheinlich nicht einmal einen Computer an- und ausschalten kann, hoffnungslos in der medialen Außenwirkung überlegen (sein Charisma ließe sich mindestens zu einem Drittel durch diese Technikkompetenz erklären), bewirkte Obama, dass jeder zukünftige Politiker der westlichen Welt verstärkt jede gerade aktuelle Form der modernen Massenmedien zum eigenen Vorteil benutzen will. Fragt sich nur, welchen Wert man dieser Hetzjagd nach aggressiver äußerer Darstellung beimessen kann.
Twitter ist nur das neuste Glied in einer Reihe von digitalen Diensten, die vor allem einen Zweck haben: Sozialität stiften. Dabei schaffen solche Dienste keinen Raum für Soziales, sondern sie entwickeln ihn erst. Soziale Netzwerke wie Myspace, Facebook, ihr dreister deutscher Klon StudiVZ oder eben Twitter produzieren permanent Kuschelplätze für menschliche Interaktion. Sie simulieren zugleich Öffentlichkeit und Privatheit, indem sie ihre Kunden dazu verführen, eigenständige Netzwerke von Freunden zu bilden, die allesamt nur virtuell bestehen.
Würden gleichzeitig die unterschiedlichsten Informationen ohne Adressat in die binäre Welt hineingepustet, dann müsste sich Twitter den tatsächlich ethisch ernst gemeinten Vorwurf gefallen lassen, es sei nichts anderes als eine riesengroße Spam-Maschine. Wenn ein Ausdruck ohne Kontext entsteht, nur für die Twittergemeinde sichtbar, dann wäre sein Informationsgehalt, gleich ob es sich um eine Anleitung für Atombomben oder um Beschreibungen von Darmzuständen handelt, immer nur der, dass es eine Information ist. Die Nachricht ist sich selbst genug, ihr Inhalt fällt an der Funktion, nur Information ohne Kontext und ohne Historie zu sein, einfach ab.
Tatsächlich ist es aber möglich, seine geistigen Ergüsse und weltlichen Erlebnisse für einen eingeweihten Kreis zugänglich zu machen. Positiv ausgedrückt heißt dies: Als Raum für Blödheiten beschränkt sich der Twitter-User auf die selbstständig auserwählte Leserschar.
Twitter ist somit ganz eindeutig eine Geburt des Web 2.0, das seine Existenzberechtigung aus einer sich neuartig strukturierenden Produktionsgesellschaft bezieht, für deren Mitglieder der Zwang zum sozialen Netzwerk als Voraussetzung zum Erfolg in Beruf und Leben besteht. Der Begriff „Soziales Netzwerk“ ist hierbei mehrdeutig. Zum einen ist er als soziologischer Terminus zu verstehen, zum anderen bezeichnet er aber auch jene digital arrangierten Systeme wie Twitter. Konnte man in Zeiten des Web 1.0 noch in einem sozialen Netzwerk agieren, so ist man nun in der Lage, es zu bilden. Jeder kann eines oder gar mehrere haben. Das wäre die dritte Bedeutung des Begriffs, der sich durch seinen Plural, Soziale Netzwerke, erweitert. Ein Netzwerk, das mir nicht passt, kann demnach einfach aufgegeben werden oder durch andere ersetzt werden (was natürlich eine Fiktion ist, denn das Soziale Netzwerk im Singular ist ja gerade ein fein gesponnenes Beziehungsgeflecht, das sich zwar in verschiedene Richtungen ausdehnen, aber nur als Gesamtheit existieren kann). Auf virtuellem Wege ist das problemlos möglich. Solche Communities bilden sich nicht mehr nur im Beruf, unter gemeinsamen Freunden, in Vereinen oder in Parteien, sondern eben auch auf virtuellem Wege. Nur muss man hier keine Anstrengungen unternehmen, um Nähe herzustellen. Das Soziale Netzwerk als System übernimmt diese Aufgabe. Es verschluckt jede öffentliche Handlung und verdaut sie zu einer privaten. Das ist das Prinzip Twitter.
Plaudern hatte schon immer eine Sozialfunktion inne. Der Smalltalk hat sich als Kommunikationsform zum Aufwärmen in Geschäftsgesprächen längst ins private Leben eingemischt. Auch davon zeugt Twitter. Das schnelle, ungeschliffene Gespräch, das oberflächlich Befindlichkeitsfragen mit Alltagsbeobachtungen vermengt, treibt jede öffentliche Funktion – und ein Arbeitsgespräch hat eine solche Funktion – ins Private hinein. Twitter ist die Fortsetzung des Smalltalks mit anderen Mitteln und verweist damit auch auf seine Funktion: Es soll entweder Geschäftigkeit simulieren, Interesse an anderen vortäuschen (jede Äußerung in Twitter ist aber kein Interesse für andere, sondern ein extrovertierter und narzisstischer Aufruf zum Interesse an einem selbst) oder Aufmerksamkeit heischen. Alles Faktoren, die ganz genau der wirtschaftsfördernden Bedeutung des Smalltalks entspringen, zugleich den inzwischen entscheidenden, über das Schicksal des Individuums richtenden Wirtschaftsfaktor Selbstdarstellung befördern, nur dass der Gesprächspartner endgültig durch ein anonymes, angenommenes Netz von Avataren ersetzt wird.
Twittern ist deshalb problematisch, weil es Interaktion fingiert. Es dient nur zur Vertreibung der Zeit, will aber zu verstehen geben, dass die Zeit sinnvoll, weil überhaupt irgendwie genutzt wurde. Nichts anderes als eine Schizophrenie!
Twittern befördert den asozialen Reiz zur Logorrhoe, weil jeder sagen kann, was er denkt, ohne darüber nachzudenken – und 140 Zeichen gerade dafür prädestiniert sind. Jede Anwandlung von Poesie oder geistiger Beweglichkeit ist ein Zufall im System.
Twittern ist das virale Marketing eines kapitalistischen Konglomerats von Firmen, das längst erkannt hat, dass sich die Menschen gerne zu digitalen Nudismen verführen lassen und damit gleichsam Intimitäten und Daten preisgeben. Die pure Ironie ist es, dass noch kein einziges Internet-Sozialnetzwerk schwarze Zahlen schreiben konnte. Wer will schon beim Mailen, Chatten, Freunde sammeln auf die nett platzierte Werbung achten?
Twittern ist das moderne Äquivalent zu den Schmierbotschaften in Toiletten, zu den Kritzeleien auf Schreibblöcken, zu den Worteinritzungen auf Schulbänken. Der Vorteil dieser alltäglichen Offline-Banalitäten ist aber ganz einfach. Man kann sich daran noch viel später erfreuen oder darüber ärgern. Das Gezwitscher im Netz ist dann schon längst verstummt oder durch neues ersetzt. Kein Zeichen bei Twitter hat größere Relevanz als eben jene, es für einen Moment online gestellt zu haben.
Die neuste Sau, die durchs digitale Dorf getrieben wird, heißt Twitter. Man kann dem Dienst bescheinigen, dass seine Originalität darin besteht, keinerlei Originalität zu besitzen. In kurzen Sätzen kann man dort der erstaunten Welt kundtun, was man gerade denkt, isst, spielt, hofft, glaubt – was man an Erkenntnissen gewonnen und an Zeit im Leben verloren hat. Eine Anmeldung reicht, dann rauschen die Kurzmeldungen über den Bildschirm. Mehr bietet Twitter nicht, weniger aber anscheinend auch nicht, um als Randerscheinung im Evolutionswettbewerb der (vermeintlich) sozialen Massenmedien unterzugehen.
Kein historisches Ereignis der nächsten Zeit wird mehr ohne Twitter auskommen. Es wird in Zeitungen stehen oder auf Websites der Zeitungen oder in Blogs der Autoren der Website dieser Zeitungen: schon einige Sekunden danach, man setze hier ein beliebiges Ereignis ein, stand es bei Twitter. Von einem gewieften User schnell gepostet, um der Welt mitzuteilen, was wichtig ist, gleich neben Sätzen wie: Bin gerade mal für kleine Jungs oder Habe mir gerade eine Tütensuppe zubereitet. So durfte sogar der neue, alte Bundespräsident, Horst Köhler, Minuten vor der Bekanntgabe seiner Wiederwahl über Twitter vernehmen.
Nun ja, man kann solch einer Beschleunigung von Informationen einen gewissen Faszinationswert nicht aberkennen. Im Gegenteil: durch die schnellstmögliche Verarbeitung von Eindrücken ermöglicht Twitter eine potentielle emotionale Anteilnahme an den Zeitläuften dieser Welt. Denn wenn neben Spaghettisaucenrezepten und Links zu Strickanleitungen eine kurze Meldung erscheint, die von einer großen Begebenheit berichtet, dann gewinnt diese gerade durch die Vernetzung mit dem alltäglichen Unfug eine besondere emotionale Färbung.
Twitter ist aber auch das neuste Werkzeug zur Verkürzung und vor allem zur Vereinfachung von Sprache und Gedanken. Es bietet sich als Raum für Blödheiten genauso an wie als Spam-System.
Ohne die jüngere, rasend voranschreitende Kommunikationstechnologiegeschichte wäre Twitter nicht zu verstehen. Das Internet hat Informationsverarbeitung revolutioniert. Die E-Mail hat den Brief weiterentwickelt – und das Schreiben zugleich erleichtert und erschwert. In Sekundenschnelle kann nun Erfreuliches und weniger Erfreuliches weitergeleitet werden. Aber je mehr Menschen sich in diese Welt der Vernetzung wagten, desto größer wurde der Drang, Informationen noch schneller, noch konziser zu verarbeiten. Die wohlgesetzte Schriftsprache des Briefes – in ihrer bald historischen Bedeutung erst durch die E-Mail als etwas Eigentümliches, zur Form zwingendes herausgestellt – löste sich in den abertrilliarden elektronischen Nachrichten langsam aber sicher in ihre Bestandteile auf. Übrig geblieben ist ein Rumpf von Zeichen und notwendigen Stilformeln, die allesamt austauschbar erscheinen. Wer Lust hat, schreibt alle Buchstaben klein. Wen es Zeit kostet, an mehrere Menschen ein und dieselbe Nachricht zu schicken (und sie entsprechend anders für einen Freund als für einen Arbeitskollegen zu artikulieren), der sendet einfach eine an alle. Weil E-Mails für jeden da sind, werden sie für Fremde und Freunde gleich schlampig verfasst. Immerhin böte das Internet die Möglichkeit – je nach Mailserver – unendlich lange Nachrichten zu schicken. Dem traditionellen Briefeschreiber geht entweder das Papier aus oder ihm werden die Briefpapierbögen zu teuer.
Anders verhält es sich mit der SMS. Eigentlich nur als Nebenprodukt fürs mobile Telefonieren eingerichtet, hat sich das Simsen als vornehmlich äußerst persönliche Möglichkeit der schnellen, ebenfalls verkürzten aber wegen seiner privaten Form umso dringlicheren Informationsverbreitung bewehrt. Die Kurzmitteilung per Telefon ist so sehr in unseren Alltag integriert, dass es sich nur einstmals um eine interessante Anekdote handelte, als verlautbart wurde, dass selbst die deutsche Kanzlerin eifrig herumsimse.
Nun, im Twitterzeitalter, wäre das nicht einmal eine kleine Zeitungsspalte wert. Wer twittert, geht mit dem Zeitgeist. Wer twittert, gibt sich zu erkennen. Früher hätte man gesagt, er wäre in. Das beste Beispiel ist der wegen seines Medieneinsatzes nun schon legendäre Wahlkampf von Barack Obama. Seinem Kontrahenten, der wahrscheinlich nicht einmal einen Computer an- und ausschalten kann, hoffnungslos in der medialen Außenwirkung überlegen (sein Charisma ließe sich mindestens zu einem Drittel durch diese Technikkompetenz erklären), bewirkte Obama, dass jeder zukünftige Politiker der westlichen Welt verstärkt jede gerade aktuelle Form der modernen Massenmedien zum eigenen Vorteil benutzen will. Fragt sich nur, welchen Wert man dieser Hetzjagd nach aggressiver äußerer Darstellung beimessen kann.
Twitter ist nur das neuste Glied in einer Reihe von digitalen Diensten, die vor allem einen Zweck haben: Sozialität stiften. Dabei schaffen solche Dienste keinen Raum für Soziales, sondern sie entwickeln ihn erst. Soziale Netzwerke wie Myspace, Facebook, ihr dreister deutscher Klon StudiVZ oder eben Twitter produzieren permanent Kuschelplätze für menschliche Interaktion. Sie simulieren zugleich Öffentlichkeit und Privatheit, indem sie ihre Kunden dazu verführen, eigenständige Netzwerke von Freunden zu bilden, die allesamt nur virtuell bestehen.
Würden gleichzeitig die unterschiedlichsten Informationen ohne Adressat in die binäre Welt hineingepustet, dann müsste sich Twitter den tatsächlich ethisch ernst gemeinten Vorwurf gefallen lassen, es sei nichts anderes als eine riesengroße Spam-Maschine. Wenn ein Ausdruck ohne Kontext entsteht, nur für die Twittergemeinde sichtbar, dann wäre sein Informationsgehalt, gleich ob es sich um eine Anleitung für Atombomben oder um Beschreibungen von Darmzuständen handelt, immer nur der, dass es eine Information ist. Die Nachricht ist sich selbst genug, ihr Inhalt fällt an der Funktion, nur Information ohne Kontext und ohne Historie zu sein, einfach ab.
Tatsächlich ist es aber möglich, seine geistigen Ergüsse und weltlichen Erlebnisse für einen eingeweihten Kreis zugänglich zu machen. Positiv ausgedrückt heißt dies: Als Raum für Blödheiten beschränkt sich der Twitter-User auf die selbstständig auserwählte Leserschar.
Twitter ist somit ganz eindeutig eine Geburt des Web 2.0, das seine Existenzberechtigung aus einer sich neuartig strukturierenden Produktionsgesellschaft bezieht, für deren Mitglieder der Zwang zum sozialen Netzwerk als Voraussetzung zum Erfolg in Beruf und Leben besteht. Der Begriff „Soziales Netzwerk“ ist hierbei mehrdeutig. Zum einen ist er als soziologischer Terminus zu verstehen, zum anderen bezeichnet er aber auch jene digital arrangierten Systeme wie Twitter. Konnte man in Zeiten des Web 1.0 noch in einem sozialen Netzwerk agieren, so ist man nun in der Lage, es zu bilden. Jeder kann eines oder gar mehrere haben. Das wäre die dritte Bedeutung des Begriffs, der sich durch seinen Plural, Soziale Netzwerke, erweitert. Ein Netzwerk, das mir nicht passt, kann demnach einfach aufgegeben werden oder durch andere ersetzt werden (was natürlich eine Fiktion ist, denn das Soziale Netzwerk im Singular ist ja gerade ein fein gesponnenes Beziehungsgeflecht, das sich zwar in verschiedene Richtungen ausdehnen, aber nur als Gesamtheit existieren kann). Auf virtuellem Wege ist das problemlos möglich. Solche Communities bilden sich nicht mehr nur im Beruf, unter gemeinsamen Freunden, in Vereinen oder in Parteien, sondern eben auch auf virtuellem Wege. Nur muss man hier keine Anstrengungen unternehmen, um Nähe herzustellen. Das Soziale Netzwerk als System übernimmt diese Aufgabe. Es verschluckt jede öffentliche Handlung und verdaut sie zu einer privaten. Das ist das Prinzip Twitter.
Plaudern hatte schon immer eine Sozialfunktion inne. Der Smalltalk hat sich als Kommunikationsform zum Aufwärmen in Geschäftsgesprächen längst ins private Leben eingemischt. Auch davon zeugt Twitter. Das schnelle, ungeschliffene Gespräch, das oberflächlich Befindlichkeitsfragen mit Alltagsbeobachtungen vermengt, treibt jede öffentliche Funktion – und ein Arbeitsgespräch hat eine solche Funktion – ins Private hinein. Twitter ist die Fortsetzung des Smalltalks mit anderen Mitteln und verweist damit auch auf seine Funktion: Es soll entweder Geschäftigkeit simulieren, Interesse an anderen vortäuschen (jede Äußerung in Twitter ist aber kein Interesse für andere, sondern ein extrovertierter und narzisstischer Aufruf zum Interesse an einem selbst) oder Aufmerksamkeit heischen. Alles Faktoren, die ganz genau der wirtschaftsfördernden Bedeutung des Smalltalks entspringen, zugleich den inzwischen entscheidenden, über das Schicksal des Individuums richtenden Wirtschaftsfaktor Selbstdarstellung befördern, nur dass der Gesprächspartner endgültig durch ein anonymes, angenommenes Netz von Avataren ersetzt wird.
Twittern ist deshalb problematisch, weil es Interaktion fingiert. Es dient nur zur Vertreibung der Zeit, will aber zu verstehen geben, dass die Zeit sinnvoll, weil überhaupt irgendwie genutzt wurde. Nichts anderes als eine Schizophrenie!
Twittern befördert den asozialen Reiz zur Logorrhoe, weil jeder sagen kann, was er denkt, ohne darüber nachzudenken – und 140 Zeichen gerade dafür prädestiniert sind. Jede Anwandlung von Poesie oder geistiger Beweglichkeit ist ein Zufall im System.
Twittern ist das virale Marketing eines kapitalistischen Konglomerats von Firmen, das längst erkannt hat, dass sich die Menschen gerne zu digitalen Nudismen verführen lassen und damit gleichsam Intimitäten und Daten preisgeben. Die pure Ironie ist es, dass noch kein einziges Internet-Sozialnetzwerk schwarze Zahlen schreiben konnte. Wer will schon beim Mailen, Chatten, Freunde sammeln auf die nett platzierte Werbung achten?
Twittern ist das moderne Äquivalent zu den Schmierbotschaften in Toiletten, zu den Kritzeleien auf Schreibblöcken, zu den Worteinritzungen auf Schulbänken. Der Vorteil dieser alltäglichen Offline-Banalitäten ist aber ganz einfach. Man kann sich daran noch viel später erfreuen oder darüber ärgern. Das Gezwitscher im Netz ist dann schon längst verstummt oder durch neues ersetzt. Kein Zeichen bei Twitter hat größere Relevanz als eben jene, es für einen Moment online gestellt zu haben.