PorNo!

Erigierte Geschlechtsteile im Breitbildformat werden hier nicht behandelt werden. Es geht auch nicht um die Frauen verachtende Darstellung kopulierender Klischeemenschen in dümmlichen Reißbrett-Geschichten. Auch Alice Schwarzers Feldzug gegen die von Männern entworfenen Hardcore-Fantasien soll hier keine Betrachtung finden. Vielmehr geht es um eine neue Form der Pornographie, die sich vorwiegend im Fernsehen ausbreitet – unbemerkt von den wortmächtigen Zensoren; erfolgreich im Programm aller größeren Sender dieses Landes. Ich spreche von der Sozialpornographie.

Sozialpornographie, das ist die um jeden Preis obszöne Darstellung von Lebenswelten – egal welcher Form. Sozialpornographie ermöglicht die Entblößung der Intimsphäre und entmächtigt Individuen ihres Rechtes am eigenen Bild. Sozialpornographie täuscht ein Bild der Realität vor, das so nicht existieren kann, weil es entweder beschämen, belustigen oder zu einer betroffenen Trauer anregen soll. Wenn ich den Begriff Sozialpornographie diskutiere, dann schließe ich jegliche Form der Zurschaustellung menschlichen Lebens zum Zwecke der Unterhaltung mit ein, die den Informationswert aufs Deutlichste beschränkt, um zu einer Aussage zu gelangen, die schon in den Köpfen der Menschen existiert. Mit diesem Wort müssen alle Formate bezeichnet werden, die sich – egal in welchem Medium – der Aufhebung menschlicher Würde bedienen, um 5 Minuten (zweifelhaften) Ruhm zu ermöglichen.

Ein gebräuchliches Wort in den Medien für Sozialpornographie ist das euphemistische „Reality-Show“. Doch dieses Wort ist genauso undeutlich wie der Begriff Vollerotik für sexualisierte Pornographie. Es ist der Versuch, Realität zu suggerieren, wo keine existieren kann. Die postmoderne Auflösung narrativer Gebilde erzwingt die Realitätsnähe bis zur äußersten Grenze. Wo im Theater Figur und Schauspieler zum Zwecke der Authentizität zu einem vortäuschenden Konglomerat aus Lüge und Scheinwirklichkeit verschmelzen, suchen die Fernsehproduzenten das willige Volk, das seine eigene Fragilität in einem Schaukasten beobachten will. Wo Depression herrscht, soll der beobachtende Pöbel regieren, um dem Elend ein widerwärtiges Schmunzeln abzugewinnen. Doch die Wahrheit und damit die schlichte Realität des Menschen ist nicht fernsehtauglich, weil sie zu langweilig, zu ereignislos ist. Deshalb wird ihr nachgeholfen.

Die Geburtswiege der Sozialpornographie hat einen Namen, der auf einen dystopischen Entwurf zurückgeht, welcher heute noch für die Bedrohlichkeit eines alles überwachenden Staates steht. Wo Big Brother in George Orwells „1984“ über uniformierte Nicht-Individuen herrschte, herrscht das Privatfernsehen im überwirklichen Big Brother über Schein-Individuen in einem im Feuilleton treffend als „Fernseh-Knast“ bezeichneten Bunker, in dem es vor allem darum geht, dass endlich nackte Haut – noch mehr wirklicher Sex zur Schau gestellt wird. Da sich das Aufeinandersitzen schnell zum psychologischen Experiment á la Standford entwickeln könnte, hilft man nach und fordert die „Knast-Insassen“ zu blödsinnigen Spielen und Aufgaben auf. Das Spiel im Kubus der Fernsehwirklichkeit verläuft nach einem strikten Drehbuch, das freilich für den Zuschauer unkenntlich gemacht werden muss. Vor ein paar Jahren fand Peter Weir mit der „Truman Show“ meisterhaft Bilder für diese Schein-Realität und versinnbildlichte nur explizit, was heute längst Realität ist.

Dass sich die Grenzen dessen, was die meisten Menschen unter Intimität verstehen, über die Jahrhunderte verändern, ist ein Gemeinplatz. In Zeiten des Internets, in einer globalisierten Welt und damit einer Welt grenzenloser Mobilität zeichnet sich eine deutliche Verschiebung der Grenze dieses zerbrechlichen Gebildes ab. Die Dialektik besteht teuflischerweise darin, dass die Bedrohung eines global agierenden Terrorismus für ein deutlich gesteigertes Sicherheitsbedürfnis sorgt, gleichzeitig die tumbe Masse ihre Freiheiten zugunsten öffentlicher Befriedigung von narzisstischen Geltungsfantasien opfert. Was vor Jahren noch undenkbar war, ist heute Realität: Selbstpräsentation im visuellen Raum ist zum Sozialkriterium Nr. 1 geworden. Heute definiert sich das Individuum durch soziale Netzwerke und die sind nicht mehr an Ort und Realität gebunden. Fiktive Charaktere, Avatare, beherrschen eine neue Dimension menschlicher Handlungsfähigkeit.

Während die einen ihr Leben ins Nebulöse des voyeuristischen Netzes verlagern, erleben die anderen eine aus den Fugen geratene Welt, in der es keinen Platz mehr gibt für Identität, Wissen, Integrität und den Schmerz einer Seele, die Ruhe benötigt vor einer allzu rasanten Wirklichkeit. Diese Menschen benötigen Hilfe. Und die bekommen sie. Berater, Nannys, Köche, Kritiker – was auch immer: Es sind Menschen, die Ersatzbefriedigung schaffen sollen. Menschen, die tief und umfassend in das Leben eintauchen sollen und es mit Rat und Tat transzendieren wollen. Aus einem präsentierten Elend soll schnellstmöglich ein Ausweg gefunden werden. Dass dies in vielen Fällen gar nicht möglich ist, wird verschwiegen. Doch es geht nicht um die vermeintlich weichen Fälle, bei denen Hilfe leicht zu erreichen wäre. Nein, die nackte Armseligkeit befindet sich in einer als Unterschicht nicht mehr wahrgenommenen Realität eines gesellschaftlichen Bodensatzes, der den Kampf um ein würdiges Leben längst aufgegeben hat – oder aufgeben musste. Vor ein paar Jahren geisterte der Begriff Unterschichtenfernsehen – aufgenommen von Harald Schmidt, geprägt von den Medienwissenschaftlern Jochen Hörisch und  Paul Nolte in dem Buch „Generation Reform“ – durch die Pulszentren der Presse. Der Begriff stand für die TV-Formate des Privatfernsehens wie z.B. Talkshows, Nachrichten mit Boulevardelementen etc. Diese richteten sich vor allem an eine Klientel: jene, die immer Zeit haben fernzusehen.

Heute ist die Sozialpornographie aber noch viel offensichtlicher. Sie bietet nicht nur Fernsehen für die Unterschicht, nein – die Unterschicht ist das Fernsehen. Damit ist nicht nur ein hilfloses, wohlstandsloses Prekariat gemeint, das bevorzugt als hilfsbedürftig dargestellt werden kann, sondern auch eine Masse von Menschen, die keine Scham mehr besitzt, was die eigene Präsentation betrifft. So hat das Fernsehen seine Opfer gefunden. Doch ist es nur das Fernsehen, das sich mit dieser Form des expliziten (und nur auf vorgefertigte Bilder menschlichen Elends zurückgreift) Intimitätsmissbrauchs beschäftigt?

Ist es nicht vielmehr generell eine hochgezüchtete Medien- und Kulturlandschaft, die sich vordergründig mit einem auflösenden Bild von Alltag beschäftigt, nur um dahinter den Kern der Entindividualisierung zugunsten chiffrierter Typisierungen – echter Avatare für den Alltag – voranzutreiben? Ist es wirklich ein Zeichen von Realitätsgewinn, wenn darauf hingewiesen wird, dass alles wahr und wirklich passiert sei? Löst sich nicht viel mehr die Möglichkeit von Kulturkritik in Luft auf, wenn immer wieder das Patentrezept Betroffenheit, Schadenfreude und Lustgewinn bemüht wird?
Wo finden wir noch Intimität, wenn wir sie zugunsten werbefinanzierter Angebote freiwillig abgeben?

Diese Fragen führen zurück auf eine entscheidende Generalfrage, die sich aus der Existenz sozialpornographischer Darstellung jeglicher Couleur ergibt: Wie wollen wir leben?

Das gegenwärtige Verständnis von Unterhaltung und Information, von Kunst und Kultur, von Realität und Fiktion befindet sich im Umbruch und die Errungenschaften der Vergangenheit (dazu zählen mithin geschützte Rechte wie Meinungsfreiheit und Pressefreiheit, aber auch jene der Intimsphäre und damit der Menschenwürde als solche) – die hart für eine Generation erkämpft wurden, die sich für die Bedeutung solcher Freiheiten nicht mehr die Zeit nimmt, um sie zu verstehen – könnten verloren gehen. Die Souveränität des heutigen Individuums vergrößert sich nicht durch die Betonung auf das spezifisch Eigene. Solange wir nicht verstehen wollen, welche Mechanismen der Manipulation hinter der Freiheit zur eigenen Darstellung stehen, können wir nicht angemessen auf die Bedrohungen reagieren, die unsere tatsächlichen Freiheiten (Würde und das Recht auf Intimität) beschränken. Die Sozialpornographie ist eine der zielsichersten Absagen unserer Freiheit, mündig zu sein. Weil sie Realität vorgibt (und manipuliert zur Schau stellt), wo keine ist. Und weil sie Konsum gewährt, der leicht verdaulich ist und das Nachdenken unterdrückt.

Der wirksamste Weg, diesen Gegebenheiten entgegenzuwirken, ist Konsumverzicht.
Nur so – und nicht anders – kann die Entblößung menschlicher Würdelosigkeit in einem entgrenzten kulturellen Raum wieder aufgefangen werden und zum Gegenteil gewendet werden. Denn was haben wir davon, wenn wir über die Ärmsten lachen und weinen und das nur, weil wir uns danach ein wenig besser fühlen – im zweifachen Sinne – und so das Leben leichter nehmen können?

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