Inspiration

Es fällt so leicht von Ängsten, Schrecken, Trauer, Freuden und Schönheit zu erzählen – die Künste der Menschen legen beeindruckend Zeugnis davon ab. Ich aber will fragen, warum es so schwer ist von Inspiration zu reden, warum es so unbegreiflich schwierig ist, auszudrücken, warum man so geworden ist, wie man ist.

Allerlei Motivationen werden in biographischen Rückblicken erfunden für die unterschiedlichsten Menschen. Jeder kann für sich selber behaupten, er wäre so oder so. Und einige besonders edle Geschöpfe führen dann noch einen Grund an, warum sie so handeln. Ein spezielles Erweckungserlebnis, das quasireligiös von der Größe eines Sinneswandels zu sprechen versucht, der zumeist an einem, in einem oder mit einem passiert ist. Ich will mich gar nicht davon frei machen, dass es mir da ähnlich geht. Ich möchte aber behaupten, dass ein solches Erlebnis, wenn es denn wirklich in einem solchen Maße von Bedeutung wäre, eine intensive Intimität hätte, die es verbieten würde, von ihr mit einer solchen Leichtigkeit zu schwadronieren.

Ich will dem gar nichts Weiteres hinzufügen, möchte aber von etwas anderem sprechen, das einem Sinneswandel viel eher entgegen kommt und das ist die Inspiration. Viele Menschen, die man spontan fragen würde, was sie inspiriert, würden diese Frage nicht beantworten können oder darauf verweisen, dass ein Künstler, ein Schriftsteller oder ein Schauspieler eine Inspiration hat (die ihn veranlasst so zu handeln, so zu wirken). Nun, das bringt mich zu dem Punkt, der mich traurig macht, aber der zugleich vom Menschen erzählt wie nichts anderes. Anscheinend ist es eine unendliche Pein zu fühlen, dass es nichts gibt, was einen unbedingt antreibt. Lieber versucht man scheinheilige Gründe zu finden für das, was man tut, als darüber nachzudenken, was einen wirklich dazu getrieben hat zu einem solchen Menschen zu werden, der man tatsächlich ist. Es ist, um das noch einmal zu erwähnen, wohl einer der intimsten Geheimnisse der menschlichen Seele – und die Frage ist nun die folgende: Sollte man dieses Geheimnis ergründen oder nicht.

Ich gehe mit diesen Zeilen dringlich davon aus, dass man es muss.
Wenn man es nicht tut, dann liegt es, wie erwähnt, daran, dass es Schmerzen verursacht, wenn man herausfinden sollte, dass dort nichts ist, was inspiriert.
Allerdings ist die Beantwortung dieser Frage, die wir uns täglich stellen, wenn auch unbewusst, von solcher Wichtigkeit, dass wir gerade daran erkranken können – psychisch also darauf reagieren, dass wir nur bewegt werden und nicht selbst bewegen – und damit uns selbst wieder zum Anfang unserer Existenz katapultieren. Am Totenbette stellt sich also noch diese drängende Frage.
Vielleicht liegt es an einem kulturellen Konzept - dem Gesellschaftscharakter – wenn es uns nicht möglich ist, diesen Schritt der Selbsterkenntnis zu tun.
Die Moderne hat auf diese existenzielle Bedrohung insofern reagiert, als sie das sprichwörtliche Bild des Vorbilds erschaffen hat. So eifern wir entweder unseren Eltern nach, Lehrern, Berühmtheiten, Künstlern, Sportlern – oder wem auch immer. Dieses Konzept, dessen Ursprung sich in den Anfangstagen der Industrialisierung finden lässt, hat in der heutigen Zeit aber keine Gültigkeit mehr, weil es vom strikten Autoritätsdenken ausging. Lehrer sind keine Vorbilder mehr – sie verlieren deshalb an Relevanz. Und in der Tat zeichnet sich die Postmoderne ja gerade dadurch aus, dass sie keine essenziellen Lehren mehr hervorbringt, die das große Ganze in sich vereinen können. Wo keine Lehrer sind, da werden auch keine Schüler sein, und so verliert sich alles Streben im Nichts. Das wiederum hat wohl mit der Austauschbarkeit der Ideen zu tun. Wir unterliegen einem Marketing-Konzept, das uns nur die Dinge als erstrebenswert ansehen lässt, die auch Erfolg verheißen (sprich: unseren Besitz mehren, unsere Beliebtheit erhöhen etc.). Deshalb kann ein Vorbild, wenn es doch noch existieren sollte, morgen schon ein ganz anderes sein – weil es mehr dem Geist von Morgen entspricht.

Genug Theorie, die ja auch schon ein wenig von dem durchscheinen ließ, was ich eigentlich sagen will. Mein Leben wurde erschüttert, herausgefordert und ein großes Stück verändert von den Ideen eines Menschen, der Erich Fromm heißt. Ich sehe ihn als eine Inspiration und gebe mich der Verletzlichkeit preis, dass jeder, der die Lehren Fromms kritisiert (und das sind nicht wenige, wenn sie sich mit dessen Materie beschäftigen), auch mich kritisieren kann. Er kann dies tun, weil es sein gutes Recht wäre. Aber ich glaube, dass es der richtige Schritt ist, an etwas festzuhalten, das einen Menschen weiterentwickelt.
Es ist das Richtige, wenn es mich weiterentwickelt.

Ich habe selbst einige besondere Initiationserlebnisse gehabt, von denen ich zu Beginn sprach und die ich, wenn man sie denn zu sehr überhöht, in ihrer Heilswirkung kritisiere. Man kann sagen, dass ich der Liebe näher gekommen bin, weil ich mich verliebt hatte, weil ich lieben wollte, weil ich Zärtlichkeit wollte, weil ich Sex wollte – einfach, weil ich ausbrechen wollte aus einer düsteren Phase, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Aber ich habe das Scheitern in mir gespürt, weil das Leben den Kranken vor schwierige Aufgaben stellt und zu diesem Zeitpunkt habe ich Kontakt gefunden zu Erich Fromm – zu „Der Kunst des Liebens“. Dieses Buch ist eine der größten Bereicherungen meines Lebens geworden, nicht weil das Buch so besonders ist, sondern weil es die Lehren Erich Fromms sind (und dieses Buch sie in einem unglaublichen Maße verständlich und eindringlich machen). Meine Lebensvorstellungen waren erschüttert – ich war in einer Krise und die stürzte auch meine Beziehungen zu bestimmten Menschen in eine tiefe Sorge. Es war eine heilsame Befreiung, die mich lernen ließ. Ein Lernprozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Ich habe von keinem Menschen mehr gelesen, ich habe noch bei keinem Autor der wissenschaftlichen Literatur diese Energie gespürt, dass das Gesagte auch beim Leser ankommen soll. Fromm beschreibt all die komplizierten Theorien, die von Freud, Marx, den Humanisten der Renaissance und buddhistischen Heilslehren beeinflusst sind, mit einer solchen Leichtigkeit und Eleganz, weil er sie den Menschen präsentiert. Weil er sie jedem Menschen präsentiert, denn ihm geht es um den Menschen.

Wenn denn alles an Theorie zerfallen würde, dann bliebe diese massive Erkenntnis, dass es um den Menschen geht, dass dies das Wichtigste ist, was uns alle Menschen bestimmen sollte. Dies beeindruckt mich so sehr; es erfüllt mich mit Freude und dem Geist der Erkenntnis.
Wie kann man je wieder vergessen, welches Leid wir Menschen uns gegenseitig antun, nur weil wir uns und unser Verhalten (und damit unseren Charakter, unsere innere Motivation, nach der wir immer handeln) nicht verstehen. Diese Leidenschaft für das Wissen um den Menschen, für die Psychologie, verdanke ich in hohem Maße Fromm, der vor 26 Jahren 80jährig in Locarno verstorben ist. Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht einmal geboren!

Heute habe ich einem Vortrag Fromms auf CD gelauscht. Ein Vortrag von einem Mann, der vielleicht kein großer Rhetoriker war, aber der wichtige Ideen so leicht verständlich machen konnte – obwohl sie so schwierig sind und hohe Anforderungen an den Menschen stellen – und damit jedem Menschen auch die Hoffnung gegeben hat, dass man sich jederzeit ändern kann. Im Übrigen eine weitere Erkenntnis, die mein Leben so sehr erfüllt.

Der Vortrag trug den Titel: „Psychologie für Nichtpsychologen“

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