Man liest nie aus
Wer versteht mehr von Literatur: Der Mann auf der einsamen Insel mit einem einzigen Buch, das er hundertmal gelesen hat – oder der Bohemien in seiner Stadtwohnung, umgeben von einer luxuriösen Bibliothek, der jeden Tag ein neues Buch verschlingt?
Für den Inselmenschen ist sein Buch wie eine Geliebte. Er kennt jede Falte, erspäht Wiederholungen, weiß um Stärken und Schwächen. Er hat es verinnerlicht und vielleicht sogar schon vom Geschriebenen geträumt. Für ihn ist das Buch eine ganze Welt aus Echos, Widersprüchen und vertrauten Rätseln.
Für den Ästheten hingegen ist die Literatur wie eine Stadt, durch die er flaniert. Er ist ein Sammler und weiß, wie Themen wandern und Stile sich ändern. Wenn er aus ihnen zitiert, dann schon deswegen, weil auch die Autoren, die er liest, sich aufeinander berufen.
Der eine bohrt in die Tiefe (weil er es muss), der andere sucht nach dem Horizont (weil er es will). Im Pendeln zwischen dem einen Satz, den man hunderte Male liest und daher nie vergisst, und den vielen, die man nur einmal erhascht, aber deren Glanz sich festsetzt wie der Staub auf den Buchdeckeln, entfaltet sich eine Ahnung von Literatur.
Denn wer wirklich liest, weiß: Ein Buch reicht bereits, um die Welt zu ergreifen, aber tausend Bücher genügen nicht, um sie zu verstehen.
