Spiegelmenschen
Das Leben ändert sich, wenn wir einen Spiegelmenschen treffen. Wäre unser Dasein nur ein Theaterspiel, dann würde dieser Agent provocateur auf den Plan gerufen, wenn nichts anderes mehr geht. Er ist so etwas wie eine Deus ex machina, um bei den Bühnenbrettern zu bleiben, aber er tritt nicht erst zum Schluss auf, um Heldin oder Held zu befreien.
Der Agent provocateur, wie er hier verstanden wird, taucht auf wie aus dem Nichts. Er erscheint jemandem zunächst wie ein Geschenk. Verständnisvoll, lebhaft, voller Geheimnisse, die gemeinsam erforscht werden wollen. Er wird zum Freund. Man verbringt Zeit mit ihm und hofft, dass sie nie endet. Frauen und Männer treten ganz sicher in etwa in der gleichen Häufigkeit als Spiegelmenschen auf. Aber es wird später unterschiedlich über sie gesprochen. Manche verschwinden mit der Zeit wieder - aber nie, ohne das entscheidende Werk getan zu haben.
Ein Agent provocateur ist gemäß Lexikondefinition eine Person, die bewusst provokativ handelt, um bei anderen bestimmte Reaktionen oder Handlungen auszulösen, die diese von sich aus möglicherweise nicht getan hätten.
Ursprünglich stammt der Begriff aus der Politik und Kriminologie, wo er jemanden bezeichnet, der Menschen zu illegalem Verhalten verleitet, um sie zu entlarven. Gemeint ist damit ein Lockspitzel, oft eingesetzt von Staaten oder Organisationen.
Was ist ein Agent provocateur?
Hier sei der Begriff aber anders definiert. Es geht vielmehr um einen Menschen, der durch seine Art zu sein in einem anderen Menschen ein rasendes Interesse auslöst, das sich aber weniger in Form von Neugier äußert, sondern immer bezogen bleibt auf dessen inneres Verlangen. Über den Agent provocateur findet man zu oftmals unbewussten Wünschen, die der andere in aller Regel sich selbst bereits erfüllt hat. Er erscheint nun nicht nur als reizendes Vorbild, sondern wird irgendwann versuchen, der neuen Freundin oder dem neuen Freund genau dieses schmackhaft zu machen, sie oder ihn sogar dazu anzustacheln.
Der Spiegelmensch ist Ratgeber und Wegweiser. So wie es nahezu unzählige Wünsche gibt, können es viele Dinge sein, zu denen er auffordert. Eine Affäre anfangen, um die Last einer ins Elend sich dehnenden Ehe abzufangen. Einen Job kündigen, weil es woanders scheinbar mehr Geld zu verdienen gibt. In fremde Länder reisen, statt immer nur zu den selben Orten zu fahren. Das erste Mal Drogen nehmen. Endlich ein Buch anfangen zu schreiben. Viel Geld in Glücksspiele investieren, um einen stattlichen Gewinn zu erhalten, der bisher nie eingetreten ist.
Es geht nicht darum, ob dies gute oder schlechte Dinge sind, legale oder illegale. Es zeigt sich hier einfach der Drang, etwas im Leben anders zu machen - motiviert durch einen Menschen, der dies bereits erlebt und auf bestimmte Art genossen hat.
Der Agent provocateur tritt deshalb immer als Verführer auf. Er provoziert erst ungewöhnliche Träume und dann subversive Gedanken oder Handlungen, die das Individuum sich selbst nicht erlauben würde. Er agiert quasi als „Freibrief“, um Normen zu durchbrechen.
Die Bekanntschaft mit einem solchen Spiegelmenschen mag sich zufällig anfühlen, aber das Gegenteil ist der Fall. Nicht der Agent provocateur sucht seinen Komplizen, es ist genau andersherum.
Bewusste Wünsche greifen nach Erfüllung. Gelingt das nicht, bleibt immer noch Sehnsucht. Je nach Temperament kann selbst das zu einer ansprechenden Freude werden. Unbewusste Wünsche hingegen finden selten zu einer Sprache. Man verbindet sie manchmal nicht einmal mit einem Gefühl. Nun erhalten sie ein Medium mit einer Person, die etwas auslebt oder erlebt, das man selbst für sich - ohne es zu wissen - gerne in Anspruch nehmen würde.
So wie der Wunsch unbewusst ist, so ist auch der Grund für die Faszination für den erfahrenen Anderen dem Wünschenden ein Rätsel. Aber jetzt gibt es eine Reibefläche, einen Erfahrungshorizont. Man wird Teil einer mythisch aufgeladenen Welt, der man folgen möchte. Auf Gedeih und Verderb.
Eigentlich ist es nicht kompliziert: Menschen tragen Wünsche in sich, die aus sozialen, moralischen oder persönlichen Gründen nicht ausgelebt werden können. Diese Wünsche sind konfliktbehaftet, weil sie mit dem Selbstbild oder den gesellschaftlichen Normen kollidieren. Der Agent provocateur tritt deshalb als eine Art externer Katalysator in Erscheinung, der diese latenten Sehnsüchte nicht nur erkennt, sondern sie aktiv ans Licht zerrt. Seine Rolle ist es, die Grenzen der Selbstkontrolle (Freud hätte hier wohl von Über-Ich gesprochen) zu durchbrechen und das Individuum dazu zu bewegen, verborgene Wünsche in die Realität umzusetzen.
Das kann durchaus zu großen Problemen führen, die für die Person, die nun eine Projektionsfigur gefunden hat, in dem Moment der Fantasterei noch nicht klar sein können. Bei Rotwein spricht es sich leidenschaftlich über die Vorzüge einer gut geplanten Nacht mit einem Verführer. Die weiteren Treffen mit dem Liebhaber werden dann vielleicht gemeinsam mit dem Agent provocateur bei Kerzenschein und wohl auch mit einem Glas Rotwein mehr besprochen. Aber die Folgen, die eine solche Affäre dann hat - die bei jedem Menschen nun einmal andere sind, auch wenn das Drehbuch für die Liaison meist ähnlich ist - können Energien freisetzen, von denen man nie glaubte, dass sie existieren. Ähnlich wäre es, wenn in freundschaftlicher Verschworenheit die Flucht ins Ausland in ein neues Leben besungen wird und das erhoffte Glück dort keiner Steigerung gegenüber dem als spröde empfundenen Leben in der Heimat entspricht.
Das Potenzial für Reue ist groß
Solche Fälle des misslungenen Ausbruchs treten häufiger auf, als dass es zu einem Erfolgsfall kommt. Das liegt einfach daran, dass es eben Gründe gibt, warum diese Wünsche unbewusst sind. Mancheiner gibt dem Spiegelmenschen dann die Schuld für das Scheitern, das doch die verschlossene Seele bereits im Keim zu ersticken versuchte. Solche Beziehungen haben also auch deswegen eine kurze Halbwertszeit.
Gelingt mit Hilfe des Agent provocateurs allerdings der Ausstieg, könnte sich daraus auch eine lebenslange Freundschaft herausbilden. Das ist dennoch nur selten der Fall. Denn oft wird der „geholfenen“ Person später klar, dass es nur einen Grund für die kurzzeitig enge Verbindung gab. Der Mittler erscheint plötzlich fremd oder gar leer. Hinzu kommt: Manche Spiegelmenschen wissen von ihrer Funktion als Übermittler unbewusster Wünsche, die sie oft sogar ungewollt ausüben - die allermeisten jedoch nicht.
Der Spiegelmensch gibt dem Individuum die Möglichkeit, Verantwortung für das eigene Handeln teilweise abzugeben.
Man kann die eigenen Handlungen als Folge eines äußeren Einflusses (der Verführung oder des Drucks durch den Agent provocateur) rechtfertigen, anstatt sie als bewusste Entscheidung zu sehen. Verlockend erschien er, weil er den Zustand innerer Spannung, zwischen dem Zwang, moralisch oder gesellschaftlich korrekt zu handeln, und dem (nicht bewussten) Drang, den verborgenen Wunsch auszuleben, plötzlich aufzulösen in der Lage war.
Der Agent provocateur reduziert diese Dissonanz, indem er die Verlockung „rechtfertigt“.
Später wird ihm deshalb aus falscher Scham vorgeworfen, als Verführer aufgetreten zu sein.
„Es war ein Moment, den ich nicht kontrollieren konnte“, heißt es dann oft, wenn der Verstand einsetzt.