Bloß nicht aus dem Takt geraten

Lacht doch auch einmal über euch! Vielleicht ist es irgendwann zu spät. Im Grunde ist es doch komisch, wie da zwei Weltsichten aufeinanderprallen, wie sie sich aneinander abarbeiten. 

Auf der einen Seite die geburtenintensive Nachkriegsgeneration, als Boomer gleichsam für die eigene Bereitschaft, immerzu Macher zu sein, geadelt und für die eigene Hyperpotenzverblendung verspottet. Auf der anderen Seite die Digitalisierten, die ewigen Wunschkinder, gelobt für ihre Toleranzbereitschaft und auch ein wenig bewundert für ihr Desinteresse an einer echten Schlacht um die Futterplätze der Gesellschaft, aber verschmäht als hypersensible Schneeflocken, die ihr Herrschaftsterrain in einen Bereich verlagert haben, der von den Nutznießern der Sexualrevolution lange vernachlässigt wurde: Zumutbarkeiten für sich und für andere nach Belieben selbst zu bestimmen. 

Natürlich lodert in dem Spektakel, das sich in endlosen Diskussionen und mittels Frotzeleien und verschmirgelter Pikiertheit im Freundeskreis, auf der Arbeit, in öffentlichen Extremsituationen (meist ist dabei ein Kind im Spiel) und vor allem in den emotionsfixierten Medien entlädt, Potenzial, die Lächerlichkeit hinter diesem sinnlosen Unterfangen zu erkennen. 

Schon der Umstand, dass immer wieder von Generationen die Rede ist, meist mit putzigen Kombinationsbegriffen (Generation Smartphone, Generation Sparbuch) versehen, obwohl das soziologisch, psychologisch und ökonomisch direkt in die Begriffshölle der Infantilisierung und Gleichmacherei führt, sollte stutzig machen. 

Noch mehr muss befremden, dass als bevorzugte Kampfzone ausgerechnet die dehnungsfähige, aber auch strukturstiftende Sprache sowie Produktivitätsfelder wie etwa die Künste oder die Wissenschaft ausgewählt werden, die nach Regeln funktionieren, die ganz bewusst von gesellschaftlicher Progression und Regression entkoppelt sind. Wer hier von Zeitgeistverschiebungen spricht oder Rückschritte in vordemokratische Zeiten vermutet, der versteht schlicht nicht, was Theater und Universitäten wollen, wie sie funktionieren und warum sie von gewissen Aufgaben der Belehrung entbunden sein müssen, um zu wirken. Und wenn man dann schon beim Fortschrittsdilemma angekommen ist, wäre es ganz gut, einmal nach Tocqueville-Paradox zu googeln. 

Man könnte sich also ewig aufregen oder endlich einmal schallend loslachen über die unsäglichen Verhältnisse. Nur wird auch das nichts bringen, wenn danach nicht wenigstens für einen Moment Ruhe einkehrt. Es braucht also Verfahren, um mit der Überhitzung der Konflikte umzugehen. Die Philosophin und Publizistin Svenja Flaßpöhler schlägt in ihrem Buch „Sensibel“ (Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren) die Idealvorstellung eines Taktes vor. Der offensichtlich drängenden Angst zweier unversöhnlich sich gegenüberstehenden Gruppen, habituell unangenehm (geistig, körperlich, sittlich) berührt zu werden, wird so ein Fingerspitzengefühl anempfohlen, mit den "Grenzen der Gemeinschaft" umzugehen. 

So heißt das Werk, in dem der Soziologe Helmuth Plessner sein Konzept eines Ausbalancierens des Verhältnisses von Nähe und Distanz vorstellt, das Flaßpöhler zitiert. Statt unsicheren Regeln des Anstandes und Abstandes zu folgen, die manchen Gemütern als Überempfindlichkeit ausgelegt werden, gilt der Takt als Maßstab. 

Was ist mit Takt gemeint? 


Plessner schreibt dazu: 

„Takt ist das Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten, die Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen zu begreifen, welche die Situation, die Personen ohne Worte in ihrer Konstellation, in ihrem Benehmen, ihrer Physiognomie nach unergründlichen Symbolen des Lebens reden. Takt ist die Bereitschaft, auf diese feinsten Vibrationen der Umwelt anzusprechen, die willige Geöffnetheit, andere zu sehen und sich selbst dabei aus dem Blickfeld auszuschalten, andere nach ihrem Maßstab und nicht dem eigenen zu messen. Takt ist der ewig wache Respekt vor der anderen Seele und damit die erste und letzte Tugend des menschlichen Herzens." (Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, S. 16.)

Statt eines möglicherweise erkenntnisgesättigten Lachens, das den Zorn wenigstens für einen Moment verscheucht, stünde ein Prinzip der Einfühlung, das zwar den (realitätsfremden) Wunsch, die Verhältnisse für alle Zeiten in eine Richtung zu bewegen, nicht zum Verstummen bringt, aber stattdessen die Gelassenheit der Einsicht in die Notwendigkeit der immerwährenden Überprüfung der eigenen Wünsche in den Vordergrund rückt.

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