Ruhe bewahren
Die Coronavirus-Pandemie teilt die Menschen in zwei Gruppen. Die einen sind unmittelbar vom Erreger betroffen. Sie haben sich angesteckt. Oder Personen, die sie kennen und lieben, haben sich infiziert - vielleicht kämpfen sie sogar um ihr Leben. Ein Schrecken, den einjeder wohl ins Reich der Albträume wünschte. Für manche ist er bittere Realität.
Dann gibt es aber auch all jene, die wegen Corona aus ihrem Alltag geworfen werden, vielleicht ihrer Arbeit nicht, oder nur unter erschwerten Bedingungen nachgehen können. Kinder, die nicht in die Schule oder den Kindergarten dürfen (und nun mit Maske und vielleicht mit bang pochendem Herzen das Schulgebäude betreten). Unternehmer, die um die Existenz ihres Lebenswerks bangen.
Beziehungen, die unter dem Eindruck der Selbstisolation buchstäblich ebenfalls in die Enge geraten. Kranke, die den Arztbesuch vermeiden und vielleicht ihr Leben gefährden. Manche fühlen sich vielleicht auch nur etwas in ihrer Freiheit eingeschränkt, sich mit anderen zu treffen, zum Feiern, zum Trinken, zum Reden. Ja, alles nicht der Rede wert. Doch treffend.
Dieses Virus, das genetisch so schnell entschlüsselt war, aber dessen Wirken den Forschern so einige Rätsel aufgibt, ist eine Prüfung für unsere Welt, gewiss. Es verbreitet sich langsam, weil es mit beispielloser sozialer und politischer Disziplin in den Stand-By-Modus gedrängt wurde. Wer weiß schon, was nun kommt. Ob Corona wieder an Fahrt aufnimmt.
Aber sicher ist: Diese Seuche hat, einem Brennglas gleich, schwelende gesellschaftliche Probleme offengelegt (auch deshalb die Unruhen in den USA, die in vielen anderen Ländern geteilte Wut auf den nicht verdorren wollenden Rassimus). Sie hat für ein noch nie dagewesenes massenpsychologisches Experiment gesorgt - mit offenem Ausgang, wenn es um die nicht nur mentale Gesundheit der Bürger geht.
Die nächsten Monate stehen im Zeichen einer wunden Sensibilität für die Folgekosten der Krise. Manche sind heute nur zu erahnen, andere werden nicht eintreten, weil die Menschen, so paradox das nun einmal ist, in schweren Zeiten neue, auch fast für unmöglich gehaltene Lösungen finden.
Aber was kräftigt gegen den Wahnsinn, selbst wenn er nur darin besteht, wochenlang nicht die Haustür zu verlassen? Vielfach ist jetzt wieder von der Resilienz die Rede. Die herkuleshafte Widerstandskraft, belastende, Leib und Seele gefährdende Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen.
Aber so sehr dieses Konzept auch überzeugen mag, übrigens auch für die Entwicklung ganzer in Mitleidenschaft gezogener Bevölkerungsgruppen oder Ethnien, so ist er eigentlich nur auf jene unhappy few anwendbar, die bereits mit der luftnehmenden Krankheit kämpfen. Alle anderen - und das ist ein Glück die überwältigende Mehrheit, selbst in den stark betroffenen Ländern - benötigt vor allem: Ruhe, Gelassenheit, Humor (oder eher: Heiterkeit).
Es gibt Menschen, die versichern anderen, selbst den Partnern, mit denen sie ihr Bett teilen, in innerem Frieden zu leben. Corona hat sie zu nervösen Zombies gemacht.
Und es gibt Hysteriker, die in diesen Zeiten vom Kaffee plötzlich nicht einmal mehr Bauchschmerzen bekommen. Weil einmal der Druck ein anderer ist, es im wirklich banalen Sinne einfach nur darum geht, weiterzumachen. Essen. Schlafen. Spielen. Vielleicht wieder mehr Sex. Oder einmal die Wohnung von Kalk und Staub befreien.
Es gibt Gründe, warum einige in einer solchen Ausnahmesituation gefasst bleiben. Jede Kultur hat ihre eigenen Konzepte dafür. Ideen, die im Notfall greifen; Orte, Dinge, Verhaltensweisen, die das Elend zerreiben.
Die Finnen laben sich in der Schwäche am Sisu, einem geheimnisvollen Kampfgeist, der in jeder bleiernen Lebensphase Beharrlichkeit und Ausdauer verleiht. Ein Zaubermittel, das allerdings deshalb identitätsstiftend ist, weil es nur jenen Schub verleiht, die auch in Finnland leben. Vielleicht nicht falsch: Wie viele konvertierte Buddhisten mussten schon lernen, dass sie im Ernstfall eben doch nicht den Kreis des Lebens adaptieren wollen.
Was nun aber wirklich hilft, das ist Contenance wahren. Contenance entwickeln, wenn sie fehlt. Ganz sicher ein verstaubter Begriff, der einst in Adolph Freiherr von Knigges Benimm-Bibel „Über den Umgang mit Menschen“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen eigenen Eintrag bekam: „Was die Franzosen Contenance nennen, Haltung und Harmonie im äußern Betragen, Gleichmütigkeit, Vermeidung alles Ungestüms, aller leidenschaftlichen Ausbrüche und Übereilungen, dessen sollte sich vorzüglich ein Mensch von lebhaftem Temperamente befleißigen.“
Aber tatsächlich ist das, was man gemeinhin Contenance nennt, auch ein sehr lebendiges Prinzip.
Wenn in den Nachrichten ein Thema alles dominiert, wenn jede Unterhaltung zwangsläufig nur ein alles in sich aufsaugendes schwarzes Loch kennt, wenn Kontakte verboten sind und Toilettenpapier rar wird, dann hilft es, die Beherrschung zu behalten, sich an der eigenen Disziplin, nicht zu verzagen, aufzurichten.
Contenance heißt: Besonnen bleiben im Angesicht der möglicherweise zerrinnenden Zukunft.
Das ist alles eine Frage der Haltung. Contenance lässt sich nicht verordnen. Nicht: „Keep Calm And Carry On“. Es geht ja gerade darum, damit zu leben, dass es nicht (wie gewöhnlich, wie geplant) weitergeht, sondern der Horizont sich öffnet und die Zeitläufte sich wandeln.
Den Verletzten und unter Umständen vom Leben sogar Gebrochenen fällt es oft leichter, diese herrische Haltung einzunehmen, die eben über die notwendigen, aber immer niedrig erscheinenden Erledigungen (Marc Aurel) hinausgeht.
Kraft gewinnt also drastisch gesagt, wer sich vorstellt, auf dem Schafott zu liegen und mit allem abschließen zu können. Er hat nichts mehr zu verlieren, außer die Haltung, die es ihm ermöglicht, letztlich gefasst auf das Kommende zu reagieren und die Angst nicht in sein Herz einsickern zu lassen. Möglicherweise auch eine masochistische Haltung, die es aber erlaubt, an ein kuscheliges, dösendes Kaninchen zu denken, während einem das Schicksal geifernd-spuckend ins Gesicht schreit und der naheliegendste Gedanke der wäre, ob die Gesichtsmaske wirklich jeden Tropfen abzuhalten vermag.
Natürlich erfordert Contenance, die eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten, vielleicht auch den brütenden Zweifeleien etwas entgegen zu stemmen, das Zuversicht spendet.
Contenance ist, vereinfacht gesagt, etwas, das sich von selbst versteht, aus dem Innersten kommt und, einem ruhig flackernden Licht in wüster Dunkelheit gleichend, nach außen strahlt.