In Honig getaucht


Mein lieber Sohn, 


ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, wie ich einst in der gleichen Situation war wie du jetzt. Diese freudige und zugleich spannungsreiche Erwartung. Das Bangen, ob alles genau so abläuft, wie es zuvor besprochen und erhofft wurde. Es kommt eh alles anders, als man denkt. Das ist jetzt aber nicht wirklich ein Ratschlag, sondern eine fürchterliche Binsenweisheit, höre ich dich sagen. Natürlich! Aber genau das bedeutet es ja, Mutter und Vater zu werden: sich auf etwas einzulassen, das nicht planbar ist.

Du kamst auf den letzten Drücker auf die Welt, mein Sohn. Als hättest du gar keine Lust gehabt, aus deinem wonnig-warmen Nest zu schlüpfen. Warum auch? Im eisigkalten Winter fällt es doch viel schwerer, zum ersten Mal die Augen zu öffnen und nach Luft zu schnappen. Du hast es dann doch gewagt, auch wenn du deiner Mutter und mir erst einmal viel Angst eingejagt hast.

Darauf musst du dich nun auch einstellen: Die Furcht wird zu deiner alltäglichen Begleiterin. Du zuckst zusammen, wenn dein Kleines plötzlich anfängt zu schreien. Du liegst mit weit geöffneten Augen im Bett und kannst sie erst schließen, wenn du endlich ein zufrieden dahingeröcheltes Seufzen hörst. Schließlich wirst du fast wahnsinnig, wenn zum ersten Mal die Nase läuft oder die Brust sich verspannt. Jedes Tränchen macht auch dich traurig. 

Jeder Schmerzenslaut fügt auch dir Schmerzen zu. Und jede unerwartete Ruhe wirft den Albtraumapparat an. Vielleicht ist es ja auch eine evolutionsbiologisch notwendige Lektion in Sachen Mitleid.

An Schlaf ist bald nicht mehr zu denken, das sagt dir ja jetzt jeder. Aber ich habe in eigentlich jeder Nacht, in der du vor Kummer schriest oder zahntest oder vor Sehnsucht nach Berührungen immer wieder zu deinen Eltern krochst, mehr geschlafen, als in jenen Tagen im Krankenhaus nach deiner Geburt. Lass es höchstens ein, zwei Stunden pro Nacht gewesen sein. Viele Tage lang. Ich ging wie auf Watte, benommen, hörte Stimmen und war doch eigentlich in Gedanken nur bei dir und deiner Mutter.

Als dich die Kräfte verließen, weil du mit Wucht auf die Welt geholt wurdest und zunächst kaum Stärkung erhieltest, schliefst du eine ganze Nacht lang friedlich auf meiner Brust. Noch nie im Leben fühlte ich mich so stolz und glücklich, jemanden vor allem Übel zu beschützen, einfach da zu sein. Das wird dir, lieber Sohn, nun bald auch so gehen. Für jemanden zu sorgen, war, als das Vatersein nur als Idee am Horizont schwebte, doch stets nur Haltung, viel zu oft Wunsch. Nun ist es eine Notwendigkeit. Es geht gar nicht anders. Mehr Verantwortung kann man im Leben nicht tragen, als ein nahezu blindes Lebewesen ins Licht zu tragen.

Aber wie sehr hilft das Lachen! Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie dir nach nur wenigen Tagen auf der Welt das erste Lächeln übers Gesicht huschte. Wissenschaftler sprechen euphemistisch vom Engelslachen, weil es lediglich eine spontane Muskelzuckung ist. Aber bei dir gab es fortan keine Stunde, manchmal keine Minute mehr ohne diese ansteckende Heiterkeit. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas möglich ist. Du wirst sehen, mein Sohn, wenn dich dein Kleines mit einem Grienen auffordert, zurück zu juchzen, dann ist jeder finstere Gedanke vergessen. Du fühlst dich, als wärst du in Honig getaucht worden.

Wer lacht, hat keine Sorgen. Sei hemmungslos albern!

Du wirst schnell merken, mein lieber Sohn, dass auch du die Welt nach der Geburt deines Kindes anders wahrnehmen wirst. Längst hast du dir die Welt erobert, siehst sie mit deinen vom Alltag schon etwas müde gewordenen Augen. Diese Routine wird nun gnadenlos aufgebrochen. Sie verändert dich, deine Frau, euer gemeinsames Band, einfach alles.

Zunächst wird deine Fähigkeit zu Konzentration und Disziplin auf eine harte Probe gestellt. Windeln wechseln magst du zunächst als ungefährliche Aufgabe abtun. Doch du wirst sehen, dass sich der Schwierigkeitsgrad sehr verändert, wenn dein Sprössling kreischend erwacht, sich auf der Wickelkommode im Dämmerlicht (es soll ja nach der Rettungsaktion nicht hellwach sein) scheinbar weidwund hin und her wälzt und dabei seine Notdurft über alle Gliedmaßen sorgfältig verteilt hat.

Stille bekommt nun eine neue Bedeutung für dich. Wenn du mit deinem kleinen Wunder im Wagen unterwegs bist und hoffst, dass es sich friedlich in Morpheus Armen bequem macht, aber Autos wie gehetzt an dir vorbei rasen, dann betest du inständig, dass sie das Kleine nicht wecken (und dann kommt doch ein Feuerwehrauto mit Sirene angerauscht…). Überhaupt nimmst du den Lärm um dich herum, selbst jedes Flüstern, viel intensiver war, wenn du weißt, dass es jemanden stören könnte, der all das noch nicht verstehen und einordnen kann. Dann bemerkst du zu deiner Verwunderung aber auch, mit welcher Engelskontenance dieser Winzling Feuerwerke, Lichtkegel und nervöses Elterngebrüll wegstecken kann, ohne auch nur einen Spalt weit die Augen zu öffnen.

Was sich dir vielleicht erst nach der Geburt erschließen wird: 

Familie ist nicht etwas, das einfach so existiert und wie ein wärmender Pullover übergestreift werden kann. Familie muss immer wieder neu gestrickt werden. Und Löcher gibt es genügend, gerade wenn es um den Zusammenhalt zweier verschiedener Sippen geht! 

Eltern scheinen zudem, so macht es zumindest auf mich manchmal den Eindruck, in Konkurrenz zueinander zu stehen. Sie erzählen wie berauscht von ihrem Glück, sie zeigen ihre Babys vor wie Schmuckstücke. Sie diskutieren endlos über Körperfunktionen, Nahrung, Schlaf, Glücks- und Unglücksmomente. Im Netz bekommen sie hingegen - und womöglich wird es dir nicht anders ergehen - regelmäßig Panikattacken, wenn sie nach etwas suchen, das ihren Schatz bedrückt. Du kannst jedes (!) existierende Lebensmittel bei Google eingeben und das Stichwort 'Baby' dazu schreiben. Es wird schon jemand etwas dazu geschrieben haben.

Schnell wirst du auch sehen, dass du nicht mehr als Individuum wahrgenommen wirst, wenn du unterwegs bist. Du bist nur noch Vater, deine Frau ist nur noch Mutter - und im öffentlichen Nahverkehr regiert tatsächlich das Augenrollen, wenn der Kinderwagen in den Waggon geschoben wird. Eher jedenfalls, als dass irgendjemand zur Hilfe eilen würde, wenn sich zu früh die Türen schließen. Aber all das ist auch praktisch. Was interessiert dich schon noch die Alltagshetze? Du bist nun ein wenig aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Vielleicht sogar ein bisschen mehr. Das ist ein Zustand, den du beklagen oder genießen kannst.

Vieles, was um dich herum passiert, wird in diesen ersten Monaten ziemlich egal. Als wäre das Elternsein zunächst ein Sedativ, das jeglichen Schmerz der Außenwelt dämpft. Dafür gewinnt der Kokon, in dem du dich sorgsam eingerichtet hast, eine Bedeutung, die dir schnell über den Kopf wachsen könnte. Nichts und niemand bereitet dich darauf vor, dass ein wenige Pfund schwerer Wurm scheinbar grundlos Stunden lang blökt, aus heiterem Himmel Brust und Flasche verweigert, deinen Rücken beim Tragen und Wiegen und Schunkeln und Heben morsch werden lässt, bricht und pinkelt und vor Schluckauf bedrohlich bebt, vor Oma oder Opa und selbst vor dir (wenn du zum Beispiel deine Frisur verändert hast oder es kurz nach dem Erwachen etwas zu fordernd anschaust) vor Schreck grässlich zu greinen beginnt, auch deine Frau vor Verzweiflung weint und du es ihr, vielleicht auch nur heimlich, auf Toilette im Büro, gleichtust. 

Ja, das klingt bedrohlich. Aber es hat auch niemand behauptet, dass es einfach ist. Von Glück zu sprechen führt in den meisten Fällen sowieso zu weit, weil es nun einmal so flüchtig ist und zu sehr an Erwartungen geknüpft, die sich im Grunde mit Baby stündlich ändern können. Aber Euphorie ist das richtige Wort. 

Alles wird groß und größer, kein Tag vergeht ohne Erschöpfung und tiefe Erfüllung, das Nötige getan zu haben. Nirgendwo wird das deutlicher als beim Gang ins Bett. Mit einem Knopf auf dem Arm der nötigen Ruhe entgegen zu schaukeln, ist, bei aller Anstrengung, eine geradezu spirituelle, inneren Frieden spendende Aufgabe. So ein Pech, dass das Ablegen ins Bett dann doch eher einem Marsch über verdammt viele Nagelbretter gleicht. 

Man sagt es so, und es stimmt wirklich: All diese Strapazen sind es nicht nur wert, sie verlieren sich auch im Dickicht des Vergessens im Vergleich zu den vielen Momenten des gemeinsamen Lachens. Gerade sensiblen Menschen, die es in anderen Bereichen des Lebens nicht immer einfach haben, wird hier das einzigartige Geschenk gemacht, die Welt, obwohl sie doch schon einmal erforscht wurde, mit einem kleinen neugierigen Geschöpf noch einmal völlig neu zu entdecken. Ich sage dir, mein lieber Sohn, das ist unbezahlbar. 

Alles Liebe! Dein Papa

Beliebte Posts aus diesem Blog

Der väterliche Freund

Abenteuer in der Welt der Wissenschaft

Über die Liebe

Warum einer Frau beim Kartoffelschälen zuschauen?

Like A Rolling Stone