Auf der Jagd nach dem weißen Kaninchen


Individualität ist der Götze unserer Zeit. Kaum etwas wird weniger hinterfragt, als der Wunsch, sich selbst zu verwirklichen. Dabei unterliegt die Bedeutung des Ichs im Vergleich zur Gruppe in der beschriebenen Geschichte der Menschheit seit jeher starken Schwankungen. 

Noch immer sorgten Naturgewalten oder die natürliche Gewalt der Wissenschaften dafür, dass das eigentlich auf gesichertem Fundament errichtete Selbst- oder Kollektivbewusstsein wieder zurechtgefaltet wurde. Auch wenn der Zersetzungsprozess in verschiedenen Teilen der Welt mit unterschiedlicher Härte und Geschwindigkeit stattfindet.



Eine Konstante darf aber als gesichert gelten: Technische oder mediale Wandel gingen stets mit einem Auftrieb des Ich-Bewusstseins einher.

Das Internet sorgt mit seiner Vernetzung der Weltbevölkerung für den wohl tiefgreifendsten Antrieb eines neuen, schrankenlosen Individualismus'. Jeder kann sich, zumindest theoretisch, präsentieren, wie er möchte. Fast alles, auch Verbotenes, ist verfügbar, oftmals zu geringen Preisen und häufig ohne großen Beschaffungsaufwand.

Mit dabei sind seit einiger Zeit auch personalisierte Produkte. Harmlose Glücksbringer für den Alltag, möchte man meinen. Das T-Shirt, auf dem graphisch wie orthographisch verunglückt das Jubiläum des Tennisvereins gefeiert wird. Kaffeetassen mit strahlend grimassierenden Kindern. Schmuckstücke mit von Kunstbernstein eingefassten Erinnerungsstücken. Dem Personalisierungskult sind scheinbar keine Grenzen gesetzt.

Der neuste Trend erfasst inzwischen auch literarische Werke. Schriftsteller schreiben Geschichten nur für einen Auftraggeber. Was aber zu anderen Zeiten eine Art bezahlte Schmeichelei für den Mäzen war, ist heute billiges Handwerk: Eine bereits abgeschlossene Erzählung wird mit einer Handvoll selbst gewählter Attribute des zahlungswilligen Lesers aufgehübscht und der Held erhält stets einen neuen Namen, je nach Auftrag.

Arme Kinderseele in Not 


Vor allem Kinder werden mit diesen vermeintlich persönlichen Abenteuerfibeln beschenkt, in denen sie selbst die (unverletzbaren, unverzagten) Helden sind – anstatt Robinson Crusoe, Alice, Pippi Langstrumpf  und Momo. Was zunächst wie eine Stärkung des kindlichen Selbstbewusstseins erscheint, ist aber genau das Gegenteil. Die Kleinen werden ihrer Chance beraubt, sich in andere Figuren hineinzuversetzen, deren Glück und Leid nachzuspüren. Stattdessen gelten nur die eigenen Gefühle als Maßstab, mit literarischen Mitteln zum Teil grotesk verzerrt. Ein Drama, das nicht nur begabte Kinder hart trifft. Denn die Leseerfahrung ist neben der elterlichen Erziehung die intensivste Möglichkeit, mitzuleiden und Gefühle anderer in ihrer Komplexität verstehen zu lernen.

Trotz der interaktiven Möglichkeiten, an der Kunsterfahrung teilzuhaben (Aufstieg und Fall des Ich-Bewusstseins spiegeln sich vortrefflich im Selbstbewusstseins des Publikums, wie es mit dem Kunstwerk umgeht - ob es dieses zum Beispiel als Angebot, als Geschenk oder als nicht selten leidige, aber zur Erweiterung des eigenen geistigen Horizonts notwendige Pflicht erlebt), blieb zwischen Zuschauer/Zuhörer/Leser immer eine mal mehr und mal weniger sichtbare Wand.

Diese bereits poröse Mauer wird sehr bald abgetragen werden.

Grund dafür ist aber nicht das plumpe Kunsthandwerk-Merchandising, sondern die sehr bald fortschreitende Virtual-Reality-Erfahrung. Noch ist die Technik zwar lange nicht ausgereift, doch sobald es möglich ist, Erzählwelten akustisch und visuell überzeugend in ein dreidimensionales „Kostüm“ zu übertragen, das sich der Nutzer nur überstreifen muss, etwa mit einer VR-Brille, vielleicht aber auch ohne Hilfsmittel in Westworld-Freizeitparks und Projektionssälen, wird dieser selbst zum Actionheld.

Die Distanz zwischen dem Kunstprodukt der Entwickler und ihren Rezipienten wird maximal verringert. Der Adressat wird zum aufgeregten Kind, das dem weißen Kaninchen in den Bau folgt.

Vielleicht wird es möglich sein, als User gottähnlich in die Handlung eingreifen zu können, sie nach den eigenen moralischen Kriterien so zu verändern, dass sie schlussendlich den eigenen Vorstellungen gemäß passt. Verschiedene vorgeschriebene und inszenierte Szenarien wären dafür nötig. Die Handlung solcher VR-Adventures würde so an den individuellen Nutzer angeschlossen werden. Jeder erlebte eine solche Story anders.



Oder es bliebe die allerdings zunächst wehmütiganmutende Erfahrung, als gespensterhafter, stiller Beobachter ins Wunderland oder 20.000 Meilen unter dem Meer einzutauchen. Wer wäre nicht gerne dabei, wenn große Entscheidungen der Geschichte vor den eigenen Augen ablaufen? Oder geliebte Kinofilme wieder erlebt werden können, in dem man sie wie belebte Kulissen betritt. Noch nennt man das plüschig immersive Erfahrung.

Rauschähnliche VR-Zustände sind aber noch Zukunftsmusik. Auf jeden Fall wird das Eintauchen in eine andere digitale Dimension zu einer der tiefgreifendsten Veränderungen in der Beziehung zwischen Kunstwerk und Beobachter führen. Das Einfühlen in Figuren und (realistische) Geschichten wäre zunächst eine Interpretation der eigenen Gefühle während des Erlebens. Perzeption ersetzte dann Reflexion.

Die technische Umsetzung, die den Erlebniswert durch Authentizität und Tiefe vergrößert, würde alle anderen ästhetischen Kriterien für ein gelungenes Kunstwerk ausstechen.

Kunst wird zum Erlebnis


Noch sind Kunsterfahrungen immer auch Kollektiverfahrungen. Selbst der einsamste Leser möchte seine Rührung anderen Lesern mitteilen, und sei es dadurch, dass er den geliebten Figuren neue Geschichten zukommen lässt, die dann bei Amazon als Fan-Fiction verkauft werden.

Doch Virtual Reality würde, wenn sie technisch irgendwann ihre bisher nur theoretischen Möglichkeiten ausreizt, wenn sie vielleicht auch zur Grundlage für ein neues begehbares Internet würde (eine Vorstellung, die Entwickler schon vor Jahrzehnten in der Schublade hatten) und als Amalgam zwischen Kino und Computerspiel aufginge, die individuelle Erfahrung endgültig in den Mittelpunkt rücken.

In einer solchen Parallelwelt, die sich mit Hilfe künstlicher Intelligenz an die Bedürfnisse der Nutzer anpasst, könnte jeder selbst zu Peter Pan oder zu Hook werden. VR-Storytelling würde genau diesen moralischen Spagat, zwischen Gut und Böse immer wieder zu entscheiden und dann den jeweiligen Part möglicherweise auch in einer dreidimensionalen Fantasiewelt zu „spielen“, so gut es eben geht bedienen. Dafür muss man kein Prophet sein. Schlussendlich würden Held und Schurke über die Planke gehen. Ersetzt vom wankelmütigen Erlebniskonsumenten.

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