Schwarzes Loch
Das Gefängnis existiert gleich zweimal. Es gibt das dunkle, metallverhangene Verließ, in dem viele zu Recht verurteilte Verbrecher und einige wenige zu Unrecht inhaftierte Pechvögel einsitzen. Und es findet sich jene Strafkolonie als Dunkelwolkenschloss in den Gedanken der Menschen, die noch nie einen solchen Bau von innen gesehen haben - und sich vielleicht wünschen, dass sie ihn niemals sehen werden.
Für die einen ist es ein Ort ohne Ausgang, für die anderen ein Ort ohne Eingang.
Natürlich hatte Foucault recht: Es sind die Armen und Verrückten, die eingesperrt werden. Aber in den Gefängnissen können sich die Geschundenen und Geschnittenen auch vor der Gesellschaft sicher fühlen, die sie erst ausschließen wollte und nun wegen ihrer frevelhaften Taten wegschließen konnte. Wahrscheinlich fliehen mehr Menschen in den Bunker, als dass sie aus ihm heraus entkommen.
Manchmal, aber eher selten, befreit die Zeit im Gefängnis von den Sorgen des Alltags, denn hinter Gittern gibt es nur ein Leben in Anführungszeichen. Für das Notwendigste ist gesorgt, der Rest wird erkämpft. Was für jene, die es erdulden müssen, ein Vegetieren unter einer kargen symbolischen Ordnung ist, verzerrt sich für die Unbescholtenen in Freiheit zum Klischee. Man kann sich nicht als Gefangener vorstellen. Man ist es - oder eben nicht.
Deshalb ist der Knast eine dankbare location für Roman, Film und TV. Hier ist der Mensch noch Mensch: nackt, entwicklungsfähig, roh. von allen Fesseln des lifestyle befreit. Einige der größten humanistischen Werke der Erzählkunst spielen in diesen schwarzen Löchern, in die eben nicht nur der Abschaum gesaugt wird. Es leben reichlich viele edle Wilde hinter Stahlgardinen.
„Ein Käfig ging einen Vogel suchen“, dieses so bekannte wie eigensinnige Gedankenspiel aus den Zürauer Aphorismen von Franz Kafka, verdeutlicht, dass die menschliche Furcht vor der Freiheit ganz sicher kein Mythos ist.
Das Gefängnis nimmt nicht Mörder oder Vergewaltiger oder Langfinger auf. Es zieht Betrüger und Lügner und Schwachbeseelte an. Auch wenn ihnen deswegen niemand den Prozess macht, so ist das Zuchthaus für seine Bewohner vor allem eine Moralanstalt, in der keine Verbrechen gesühnt werden, sondern Selbstkonfrontation an der Tagesordnung ist.
Dass dies auch für all die vermeintlich in Freiheit lebenden Menschen ein Problem wäre (nur die wenigsten leisten sich den masochistischen Luxus, zum Moralisten zu konvertieren), beweist nur, dass die Mauern zwischen Gefängnis und Welt wesentlich dünner sind, als gemeinhin angenommen wird.