Auschwitz gesehen

Vor vielen Jahren habe ich als Grundschüler Auschwitz gesehen. Diese Erfahrung hat mich sehr geprägt. Erst viel später habe ich verstanden, dass es eigentlich unmöglich ist, das Lager wieder zu verlassen, wenn man es erst einmal betreten hat.



Das Erschreckendste ist die Friedlichkeit, die absolute Ruhe, die sich über das Gelände wie Morgentau auf Gras gelegt hat. Die Natur hat Birkenau, hat Auschwitz zurückerobert. Natürlich war mir das Endzeitlager auch als Kind schon ein abstrakter Begriff. In Klassenzimmer hatten wir darüber gesprochen, Anne Frank behandelt und auch „Schindlers Liste“ gesehen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass die klagenden Violinenklänge, die John Williams für den Spielberg-Film komponiert hatte, sofort in meine Gedanken sprangen, als ich über die sorgsam für den Publikumsbesuch hergerichteten Pfade in Auschwitz schlich. 

Auch die eine Szene, als die gefangenen Juden in einer schneeverhangenen Winternacht in der Hölle ankamen und mit dem Zug durch die von Aussichtstürmen bewachten Tore fuhren, erschien mir sofort vor Augen, als ein Guide uns in einen dieser Wachposten führte, um das weitläufige Gelände zu überblicken. Kritiker echauffierten sich damals, dass der amerikanische Popcorn-Regisseur hier ein geschmackloses und auf absurde Weise romantisch verzerrtes Auschwitz zeigte. Ja, das auch. 

Denn gegen die Bilder, die sich festgesetzt haben, muss man ankämpfen. Manchmal zieht man auch mit der Verklärung gegen den Horror in die Schlacht, ordnet einen Albtraum, der mit Worten nicht beschrieben werden kann. 

Die Dokumentation „Night Will Fall“, die von einem Film-Projekt erzählt, das direkt nach der Befreiung des Lagers von Großbritannien und den USA in Auftrag gegeben wurde, zeigt andere Bilder. 

Das Grauen sollte nach der Befreiung der Lager, so gut es ging, mit der Kamera dokumentiert werden. Selbst Regisseur Alfred Hitchcock, der seinen Blick fürs Schreckliche bereits im Kino zu genügend unter Beweis gestellt hatte, wurde engagiert, um den Bildern des Todes eine Form zu geben. Doch der  Lehrfilm für das nach dem Ende des Krieges „aufgewachte“ Deutschland wurde alsbald ins Archiv verbannt. Zu wenig versprach man sich davon, die Deutschen mit ihrer Schuld zu konfrontieren - gerade auch deswegen, weil mit der Sowjetunion längst ein neuer Feind bekämpft werden musste. 

Es ist erschütternd, all die Leichen zu sehen. Wie sie fortgeschafft werden. Zu viele, um sie nicht wie Abfall zu verscharren. Doch diese Toten waren gerade nicht jene, die in den Gasjammern qualvoll ersticken mussten und dann verbrannt wurden, wie Claude Lanzmann immer  wieder betonte. Mit seinem monumentalen Un-Film „Shoah“, oft als historische Dokumentation missverstanden, hatte er gerade davon Zeugnis abgelegt, dass es sich bei den in den Konzentrationslagern getöteten Juden um Opfer handelte, die mit den Mitteln des Films nicht dargestellt, ja eigentlich mit keinem Mittel der Kunst oder der Geschichtsschreibung gezeigt werden können. 

So sehr wie sie von den Nazis zu namenlosem, identitätslosem Fleisch verdammt wurden und so auch gewissenlos aus der Welt geschafft werden konnten, ist es nicht mehr möglich, sie nachträglich in ihr Recht zu setzen, sie mittels der Bilder eines gütigen Kameraauges retrospektiv vor dem Verbrechen zu bewahren. 

Man begreift diese Vorstellung nicht, wenn man nicht in Auschwitz war. Man glaubt, dass es so etwas wie ein  kathartisches Gedenken gibt, das die Schuld aus der Welt schafft oder doch wenigstens Versöhnung zulässt. Aber das gibt es nicht. 

Noch einmal Claude Lanzmann: Zum Kinostart von „Schindlers Liste“, den der Franzose ein Leben lang mit Verachtung belegte, sagte er, der Film handle vom Überleben, wo doch vom Tod die Rede sein müsste. Spielberg entgegnete ihm seinerzeit, dass die jüdische Kultur doch Hitler überlebt hätte, dass die Juden doch weiter existieren.

Wer Birkenau verwundet überstanden hat, der Stille der Ruine verwundert entkommen durfte, sieht sich im Lager Auschwitz einem Museum ausgesetzt, das von außen eine kaum zu fassende Harmlosigkeit ausstrahlt. Oft wurde der Vorwurf laut, dass die Musealisierung des Völkermords keinen Zugang gewährt zum Inneren des Schreckens. Aber das Gegenteil ist der Fall. 

Ich habe es gar nicht erst bis in die dunklen Gaskammern geschafft. 

Ich mochte diese Nicht-Orte gar nicht erst betreten, denn sie existierten nur für die Menschen, die sie nicht mehr verlassen konnten. Nur für sie waren sie für einen Moment Realität. Für uns Nachgeborene, Erinnernde, sind es stumme Mahnmale. Aber es braucht nicht diese verätzten Gemäuer, um den Holocaust (kein Wort kann der gespenstischen Vernichtungsideologie einen Sinn abzutrotzen) greifbar zu machen. 

Besucht man die Museumsstätte in Auschwitz, sieht man hinter Vitrinen Unmengen von Pässen, Listen, Urkunden, Brillen, Münzen, Prothesen, Gebissen, Pfeifen, Taschentüchern, Uhren, vor allem Fotografien und büschelweise Haare. Diese Menschen, deren leblose Körper wir nie sehen konnten, weil sie ausradiert und verbrannt wurden, mussten ertragen, wie all ihr Hab und Gut entnommen, peinlich genau katalogisiert, dokumentiert und eingezogen wurde. 

Vielleicht ist die versuchte Vernichtung der Juden der destruktive historische Höhepunkt von Industrialisierung und Bürokratisierung. Verwaltete Tötung von Menschen, die zuvor ausgepresst und ausgebeutet, als lebende Forschungsobjekte missbraucht und als Arbeitskräfte bis zum Rand der Erschöpfung benutzt wurden, um aus ihnen den maximalen Ertrag menschlicher Produktionskraft heraus zu drücken. Weil jedes Strafrecht der Welt den Mord zurecht als schwersten Straftatbestand wertet, fallen diese Verbrechen erst einmal hinter dem Horror der geplanten und durchgeführten Vernichtung zurück, dabei haben sie Folgen (darunter auch für spätere Generationen), die kaum zu ermessen sind.  

Das ist eine Lektion, die ich nicht tränenden Auges, sondern bleischweren Magens gelernt habe. Unsere Lehrer versuchten uns Kinder, die von den ungeordneten, fatalen Eindrücken überfordert waren, mit gewählten Worten entgegenzutreten. Auch mit Rollenspielen, so harmlos es klingt, damit das Unaussprechliche auf andere Art und Weise zum Ausdruck kam. Wir versammelten uns auf Stühlen und bekamen die Aufgabe, unsere Gefühle mimisch darzustellen oder wie Statuen zu posieren, denen das Entsetzen, die Trauer, auch die Hilflosigkeit in den Körper eingeschrieben ist. Für Sekunden regungslos dasitzen. Das Nichts zulassen, das uns angeblickt hatte - uns unschuldige Kinder. 

Ich weinte irgendwann, weil es nicht mehr anders ging. Doch es war eine Traurigkeit, die von jenen Geigen dirigiert wurde, die in „Schindlers Liste“ das Leid illustrieren. Die Wahrheit, der ich in Auschwitz begegnete, war aber nicht zu betrauern. Diese Wahrheit hatte etwas Steinernes, etwas Regungsloses. Worte drücken Bewegung aus. Sie bringen Laute zum Schwingen, sie ergeben als aneinander gekoppelte Laute Sinn.

Auschwitz bedeutet Schweigen. Die größtmögliche Abwesenheit von Sprache, Sinn und Veränderlichkeit. 

Die Nationalsozialisten wussten, was sie taten, als sie ihre Lager noch vor der Befreiung durch die Alliierten in Schutt und Asche legten oder legen wollten. Niemand sollte erfahren, was sich hinter den Stacheldrähten und in den Baracken befand und wie sich der Tod durch die Schlote zwängte. Es gelang den Schlächtern nicht, weil sie von ihrem Protokollwahn besessen waren; einer obszönen Bürokratie, die es notwendig machte, über das Töten minutiös Bericht abzulegen. Zugleich hinterließen sie aber einen Flecken Erde, der niemals mehr vergehen und wohl auch nicht vergeben wird, der trotz jeder Veränderung, die von der Natur nun einmal vorgesehen ist, bleibt. 

Wer einmal in Auschwitz gewesen ist, versteht diese Ewigkeit, die weder mit dem Kopf noch mit dem Herzen erfasst werden kann. Wer einmal in Auschwitz gewesen ist, verlässt es nicht mehr.

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