Jagdspiel
Die Jägerin hat ihr Opfer bereits umstellt. Mit funkelnden Augen fokussiert sie das winzige Wesen, von dem sie weiß, dass es in den nächsten Sekunden ganz ihr ausgeliefert sein wird. Sie allein könnte es verschonen. Sie könnte es aber auch von einem Moment auf den anderen einfach so zerreißen. Ganz wie sie will. Ach – und dann könnte sie es auch noch um die Gartenhecke hetzen, zupacken, das nervöse, angstumspannte Gefiepe in die Höhe treiben, bis das arme Ding völlig entkräftet einfach liegen bleibt.
Die
Klitzekleine weiß um ihre Feindin. Es bedarf keiner Erklärungen, keiner
Hoffnungen. Sie wird mit der Angst leben müssen. Und sie hat ihre Feindin
bereits im Visier. Ja, noch bevor sie erspäht wird, weiß sie, dass sie bald um
ihr Leben rennen muss. Sie hat nichts als ihre Angst. Doch diese Angst kann der
entscheidende Vorteil sein in einem grausamen Spiel, das für die Gehetzte nur
den höchsten Einsatz kennt: die nackte Existenz.
Atemlos
pirscht sich die Räuberin heran. Sie weiß, dass sie nun ganz still sein muss.
Der Körper ist warm, die Augen sind starr. Im Dickicht lauert sie auf den einen
konzentrierten Moment. In diesem Spiel ist sie die Todbringerin, deren Einsatz
sich darauf beschränkt, der eigenen tödlichen Langweile eine kurzweilige Hatz entgegenzusetzen.
Sie hätte das nicht nötig. Das weiß sie. Manchmal schaudert sie vor sich
selbst. Aber dann, wenn sich alle Härchen nach dem Jagdziel strecken, entdeckt
sie die teuflische Lust wieder, die es ihr bereitet, einem sprintenden
Fellballen den Garaus zu machen. Sie wetzt die Klauen. Sie ist gierig.
Das
Opfer muss immer einen Schritt voraus sein, sonst ist alles aus. Todesmutig
kauert die Arme sich zusammen, hält den Atem an und schaut um sich. Während
ihre Feindin sie kühl beobachtet, spürt die Kleine jeden Ausweg auf, der ihr in
der kurzen Zeit noch bleibt. Sie muss sich sammeln, ganz und gar. Das hat sie
ihrer übermächtigen Gegnerin voraus. Jede Sekunde ihres Lebens verstreicht mit
dem Gedanken an den einen rettenden Ausweg. Die Angst, gefressen zu werden,
ergreift sie nicht erst, wenn es für sie um Leben oder Tod geht. Es ist eben
nicht nur blutiger Ernst, sondern bleibt ein Spiel, auch für die Gejagte. Ein
lüsternes Spiel um den letzten Trumpf, ums Überleben.
Mit
einem donnernden Sprung ins Dunkel beginnt der erhabene Kampf. Der erste Stoß
muss sitzen. Die Krallen graben sich tief in die Erde. Zitternd schließen sich
die Tatzen zusammen. Fehlschlag. Sie ist bereits fort, geflüchtet. Aber sie
kann nicht weit gekommen sein. Wieder zwingen sie sich beide zur Stille. Die
Geflohene hat längst wieder ihre Peinigerin anvisiert. Sie stellt sich tot, um
dem Tod zu entgehen. Doch es dauert nur wenige Augenblicke, dann greift die
Grazile wieder zu. Ihre Krallen werden mit jedem Stoß nur schärfer. Inzwischen
ist auch die Jägerin nervöser geworden. Wie wild fuchtelt sie mit ihren Tatzen
durch die Büsche, pflügt den Sand zur Seite, schaut siegesgewiss auf die
verspannten Pfoten, nur um zu erkennen, dass ihr das Viech entwischt ist.
So
geht es minutenlang. Die Kleine hat der Übergroßen einen Kampfplatz
aufgedrückt, der ihr immerhin die Möglichkeit gibt, dem tiefen Schwarz noch für
kurze Zeit zu entgehen. Fletscht ihre Feindin auf der linken Seite der Hecke
die Zähne, flüchtet sie zur Rechten. Gräbt sie ihre Klauen zur Rechten in das
Grün, springt sie geschwind nach links. Die Jägerin darf nicht müde sein. Aber
sie beginnt sich zu langweilen. Dieses Spiel hat keinen Sinn. Es ist reiner
Zeitvertreib. Das weiß sie. Das redet sie sich ein, um die drohende Niederlage etwas
abzumildern. Die Gejagte kauert irgendwo im Dickicht; ihr Herz mag tausendfach
in der Sekunde wummern, in ihrem Kopf kreischt es: Still!
Wieder
hat die Brachiale alles in einen verzweifelten, kühnen Sprung in die
Pflanzenmauer gelegt. Vergeblich. Doch die vom Tod verfolgte musste ihren
vermeintlich sicheren Platz räumen. Nun hat sie ihr Versteck verloren. Die
Sonne leuchtet ihr dreist ins Gesicht, als wollte sie ihr zuflüstern: Gib’s
auf!
Aber
sie gibt nicht auf. Sie spurtet los, wähnt ihre Feindin im Rücken und schreit
um ihr Leben, damit es irgendjemand auf diesem kahlen Planeten höre. Die
Jägerin hat es gehört, stößt mit schnurrendem Kriegsgebrüll auf ihre sichere
Beute und umkreist den Dornenbusch als wäre sie wild geworden. Hier ein
Tatzenschlag, dort ein Klauengriff. Es bringt alles nichts. Für einen Moment
zweifelt die Starke. Sie denkt nach. Das ist ihr Fehler, denn die Flüchtende
braucht keinen Augenaufschlag zu zweifeln. Sie muss nicht denken. Jeder Versuch
wäre ihr Todesurteil. Und so nutzt die erbärmlich Verlorene, die dieses Spiel
nicht oft wird spielen dürfen – aber, wenn es dazu kommt, trotzdem mit allem
Einsatz spielen wird – das kurze Zögern ihrer Widersacherin und springt
glückstrunken in ein Erdloch.
Das
Spiel ist aus.
Die
Gejagte wiegt sich im sicheren Erddunkel in den bitternötig gewordenen Schlaf.
Die
Jägerin verzieht sich schmollend auf den Wohnzimmerteppich und wartet auf das
nächste Mahl.