Lob der Sensibilität (4)
Verteidigung der Sensibilität vor den Tücken der Sentimentalität
Der Sensible unterscheidet sich vom Sentimentalen schon dadurch, dass er eher die Einsamkeit sucht, oder zumindest mit Einsamkeit besser zu Recht kommt. Der Sentimentale kann nicht allein sein. Er fürchtet sich davor, denn er braucht ein Ventil für seine Gefühle. In Wahrheit fühlt der sentimentale Mensch erst durch den Spiegel eines Anderen. Spricht er nicht über seine Gefühle, dann fühlt er nicht. Ganz anders der sensible Mensch: Er muss sich von Zeit zu Zeit in Einsamkeit flüchten, weil ihn die vielen Reize, die ihn umgeben – Signale, die seine Seele berühren und seinen Körper aufwühlen –, überfordern. Deshalb hat der Sensible auch eine völlig andere Beziehung zur Natur als zum Beispiel der Sentimentale. Der empfindsame Mensch, hier irrten die Romantiker, flüchtet nicht in Waldeinsamkeit, um sein Gemüt anzuregen. Vielmehr ist der Sensible gegenüber der Natur und ihren komplexen Prozessen mit Ehrfurcht erfüllt. Die Natur ist ein ausdrucksstarker Sender, der Sensible ein empfindlicher Empfänger. Viele sensitive Menschen können einen Wetterumschwung schon Tage zuvor spüren. Für sie hat das Wetter eine ganz andere Bedeutung. Sie verklären weder Sonnenschein noch sommerlichen Regenguss. Auch da zeigt sich der sentimentale Mensch völlig anders. Es gibt kein Exemplar dieser Gattung, das nicht in irgendeiner Weise bestimmte Wetterzustände idealisiert.
Dabei kann es sein, dass er von seinen eigenen Gefühlen bereits überfordert ist. Er reagiert deshalb oftmals in Beziehungen zu anderen wenig schlüssig. Sein Verständnis der Gefühle anderer beruht aufgrund seiner Veranlagung weniger auf gesellschaftlicher Beobachtung – die ihn zu eindeutigen Urteilen darüber führen würde, welche Emotionen in bestimmten Situationen geboten sind – als vielmehr auf direkter Selbstbeobachtung. In der Wahrnehmung anderer erscheint der Sensible, wie paradox, als Gefühlstrampel, denn er zeigt häufig Reaktionen, die von ihm nicht erwartet werden. Aber auch hier beruht die Wahrnehmung auf dem missverstandenen Unterschied zwischen Gefühlen und Emotionen. Während der Sentimentale zu einem Übermaß an Emotionen fähig ist (er taugt deshalb nicht als Phlegmatiker), scheint der Sensible hier deutlich eingeschränkt.