Zeitenwende (7)

Wer ständig von Gesundheit spricht, muss das Kranke um sich (und in sich) spüren.

Wenn der Gesundheitskult auch zunächst den Anschein einer durchaus humanistischen Form der Selbstfürsorge hat, offenbart sich bei näherer Betrachtung das Konzept einer radikalen Bio-Politik, wie sie von zahlreichen Denkern des 20. Jahrhunderts bereits vorausgeahnt wurde. Nur ein gesunder Staatsbürger ist auch ein guter Staatsbürger. Eine Lehre daraus: Die Repression muss längst nicht mehr vom Staat ausgehen. Der Bürger unterdrückt sich selbst, in dem er sich einer wohlklingenden Körperutopie unterwirft, die entweder Optimierung des Natürlichen verheißt (das Wohl der plastischen Chirurgie) oder „Gesundung“ durch Körperfolter.

In beiden Fällen ist Gesundheit ein Zustand, der hergestellt wird. Verspricht die Schönheitschirurgie ewige Jugendlichkeit, so deutet sie auch an, dass sie das Altern, dieses kontinuierliche Krankwerden auf dem Weg zum Tod, aufhalten möchte. Schönheit wird zum Produkt erhoben, das gleichzeitig symbolisch für Gesundheit steht. Wie absurd, denn nichts erweckt einen kränklicheren Eindruck als eine misslungene Schönheitsoperation. Wer joggt, turnt und Fahrrad fährt, wer unentwegt Vitamine schluckt, Roggenbrot verzehrt und jeden Morgen kalt duscht, glaubt nicht, dass er seinen Körper gesund hält (das wäre bereits ein Fehlschluss), sondern er glaubt, dass er sich so erst zur Gesundheit zwingt.

Das Problem ist, dass Gesundheit als ein Nicht-Kranksein verstanden wird. Das ist aber schlicht falsch. Es gibt keinen Urzustand der Gesundheit, wie es auch keinen Zustand des Krankseins gibt, auch wenn die Wörter „Gesundheit“ und „Krankheit“ dies nahe legen. Vielmehr handelt es sich bei einer Erkrankung um ein Krankwerden, also um einen komplexen Prozess, der mit der Genesung einen neuen Körperzustand durchaus herstellt, aber eben nicht mehr den alten Körperzustand zurückholt. Jede Krankheit verändert das Individuum. Deshalb gibt es auch keinen Urzustand der Gesundheit, höchstens einen „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“, wie ihn die Weltgesundheitsorganisation bestimmt hat.

Die Frage nach körperlichem Wohlergehen ließe sich noch recht leicht beantworten. Was aber ist mit geistigem Wohlergehen gemeint? Eine gesunde Psyche? Schon hier wird es schwierig. Man weiß, was eine Seele kränkt und auch in etwa, wie man diese Verstimmungen der Psyche irgendwie beheben kann. Aber führt man sie so zurück zu einer bestimmten Form – zur Definition – der Gesundheit? Schon die Depression stellt ja den Glauben an eine solche Gesundheit in Frage.

Noch deutlich verworrener müssten Antwortversuche auf die Frage nach sozialem Wohlergehen ausfallen. Lebensführung, Arbeitsverhältnisse, Freizeitverhalten, nicht zuletzt Temperament und Charakter bestimmen das Leben des Einzelnen unter Vielen. Was hier zu Wohlergehen führt, ist bei jedem Individuum höchst unterschiedlich. Der eine wird ohne Mitmenschen krank, der andere fürchtet die Masse.

Natürlich ist es möglich an einer Gesellschaft zu erkranken. Vielleicht gibt es aber auch so etwas wie eine kranke Gesellschaft, also eine Kollektiverkrankung, die dem Menschen gar keine andere Möglichkeit lässt, als krank zu werden. Früher nannte man es Entfremdung, heute nennt man es anders. Ist der psychisch Kranke womöglich der Gesunde in einer Gesellschaft, die allgemeinmenschliche Bedürfnisse radikal beschneidet, weil er auf sie sensibel reagiert?

Gesundheit meint eigentlich zweierlei. Ein Gesundwerden und ein Gesundsein. Das erstere ist als Prozess nachvollziehbar. Man geht zum Arzt, bekommt Medikamente und fühlt sich nicht mehr krank. Das ist so einfach wie logisch. Die Gesundheit, verstanden als Gesundsein, ist aber auch ein Prozess, der von einer Dynamik geprägt ist, die ohne ein umfassendes Selbst-Bewusstsein (eher: Körperbewusstsein) nicht offensichtlich wird. Dieses Selbst-Bewusstsein verliert sich mit dem Pillenschluckautomatismus. Der Patient hat sein Selbstbewusstsein dem Arzt übertragen, als wüsste der schon, was ihm fehlt. Er hat ihm so aber auch die Macht in die Hand gegeben, über seine eigene Gesundheit zu bestimmen. Krankheit wie Gesundheit sind als Zustände, als ein gesellschaftliches Produkt, in den Menschen eingeschrieben. Kranksein und Gesundsein halten eine lebensnotwendige Balance, wonach immer wieder der Pegel in eine der beiden Richtungen ausschlägt. Gesund oder krank? Immer schon auf dem Weg krank zu werden oder zu gesunden.

Das Selbst-Bewusstsein als Körperbewusstsein ist ein kritisches Verständnis des eigenen Seins. Es erfordert sehr viel Übung und vor allem Aufklärung. Es ist, wenn auch nur zu einem kleinen Teil, angeboren – wie ein Signalsystem, das kommende Krisen zuverlässig erahnt. Man kann es auch intuitiv nennen. Ein Bauchgefühl also, denn wo lässt sich der Stress, der auf Körper, Geist und Seele ausgeübt wird, besser verorten als in Magen und Darm. Mit dem Umständen und Belastungen verändert sich aber auch dieser Warnapparat. Er wird durch anderweitige Erkenntnissysteme über den Zustand des eigenen Körpers ersetzt. Früher urteilte zunächst der Hausarzt, heute fällt das Selbsturteil zuerst übers Internet, als paradoxes selbst erteiltes Fremdurteil. Das Unwohlsein wird einfach weggedacht – oder jedes Symptom führt zur immergleichen Diagnose: Krebs.

Wer nicht einmal mehr in der Lage ist, das eigene Kranksein zu erspüren, was mithin bedeutet, es auszuhalten, der verliert auch jedes Gefühl für ein Gesundsein. So bleibt ein hilfloser Patient zurück. Immer in der Angst vor der nächsten Bronchitis, im Krankenbett ein Häufchen Elend.

Man darf nicht vergessen: Der Kranke stellt einer Gesellschaft, die immer am Gesunden ausgerichtet ist, schwerwiegende Fragen nach Sinn und Verantwortung, nach Solidarität und Menschlichkeit. Werden diese Fragen nicht mehr ernst genommen oder verdrängt, dann wird auch das gesellschaftliche Gefüge nicht mehr hinterfragt. Sobald die Risiken und Nebenwirkungen nur noch vom Einzelnen getragen werden sollen und nicht mehr von der Gesellschaft, verändert sich das Gesundheits- und Krankheitsbewusstsein. Der Kranke betrifft alle!

Weshalb dann eigentlich noch von Gesundheit sprechen? Fitness ist das Zauberwort.

Wer von einem gesunden Leben doziert, meint eigentlich Fitness. Jeder ist selbst verantwortlich für sich, also für seinen Körper. Es gibt keinen Zwang auf ihn zu achten, doch ein Gebot, ihn zu hegen und zu pflegen. Im Sinne der heiligen Trias des Wohlergehens im Körperliche, Geistigen und Sozialen bezieht sich diese Fitness nur noch auf den Leib. Der ist beliebig formbar und beschreibbar. Wie Knete kann er modelliert werden. Was soll man sich noch mit den komplizierten Eigenschaften von Psyche und Gesellschaft herumplagen?

Fitnessstudios halten als Sinnbild für die rasante Stilisierung des Körperlichen her. Ein gesunder Geist, so heißt es doch, lebt in einem gesunden Körper. Schon Nietzsche hat sich danach verzehrt – und büßte den gesunden Geist ein. Wer seinen Körper nicht achtet, wird verspottet. Der Gesundheitskult ist ein Körperkult – und an dessen Rändern stehen der Adipöse und der Anorexiker.

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