1547 Seiten
Vorneweg: Ich habe mir Unendlicher Spaß von David Foster Wallace besorgt. Es ist mit einfachen Worten gesagt das wichtigste, bedeutsamste, energischste und seltsamste literarische Werk, das in diesem Jahr in Deutschland, in einer fulminanten Übersetzung von Ulrich Blumenbach, auf den Markt kommt. Vielleicht ist es sogar das hellststrahlende Buch der letzten Jahre. Aber es ist auch ein Ziegelstein von einem Buch, dickbauchig, kiloschwer und 1547 Seiten umfassend. Tausendfünfhundertsiebenundvierzig Seiten!
Es steht außer Frage, dass der Lesemarathon dieses Klumpen einer magischen Odyssee gleicht. Wer nur die ersten zehn Seiten durchforstet, bekommt einen zaghaften Eindruck von Wallaces Hyperrealismus, der in der Literatur unserer Zeit seinesgleichen sucht. Hier hat ein Autor versucht, alles, was ihm in den Blick, was ihm zu Ohren gekommen – ja, was ihm in den Geist geströmt ist – zu fassen. Wallace versucht sich als Chronist der ADHS-verseuchten Spaßgesellschaft des Westens. Er kann nur so schreiben, weil er Teil dieser Welt ist, weil er mit allen Sinnen und einer überproportional ausgeprägten Intelligenz (eine damit verbundene und durch Drogenkonsum sicherlich oszillierende Hypersensibilität, die auch erschreckend ist, gehört ebenso erwähnt) ergreifen will. Wallace erleidet stellvertretend unsere aus den Fugen geratene Zeit. Da gleiten Worte über das Papier, die so fremd, so unnahbar erscheinen. Es sind zum großen Teil Worte, die sich der Popkultur bisher erfolgreich entzogen haben, weil sie einen eigenen, hermetisch abgeriegelten Kosmos beschreiben wollten. Wallace zerrt sie mit Gewalt und Neologismensicherheit in das Verdauungssystem des Pop, und wenn man so will und dies auch mutig zu sagen in der Lage ist, dann beschreibt Wallace hier auf Überlänge den Sieg der Populärkultur über jede erdenklich andere. Ein Pyrrhussieg sicherlich, destruktiv aufgeladen und letztlich sogar mit dem Schicksal des Autors verbunden. (Wer das bedrückende Leben dieses Autors nachempfinden will, der ziehe den hervorragenden Nachruf auf DFW, wie er gerne genannt wird, in der Rolling Stone Ausgabe vom Dezember 2008 zur Hand) Aber ein Sieg, den man als Leser miterleben, miterleiden kann. Wenn man denn die Muße hat für 1547 Seiten.
Das ist auch eine unendliche Qual.
Ich benötige im Schnitt für 50 gedruckte Seiten im gewöhnlichen Taschenbuchformat bei bis zu 40 Anschlägen bzw. Zeilen etwas mehr als eine Stunde. Meistens sind es etwa 65-70 Minuten. Das bedeutet, ich habe mit DFW einen unendlichen Spaß von über 33 Stunden reiner Lesezeit. Nur kann man diesen schweren weißen Block mit den grell-schwarzen Buchstaben
UN
ENDLicher
SPASS
nicht derartig kurzweilig überfliegen. Ohne Notizzettel und Stift wäre die Lektüre sinnlos. Die fiese Angewohnheit Wallaces, Fußnoten zu setzen – wie ungewohnt für den fliegenden Blick des gewöhnlichen Romanverschlingers – erschwert den Lesefluss. Ein gewolltes, gekonntes Verfahren, das zur Konzentration zwingt. Dieses Werk gleicht einer Enzyklopädie.
Ich gebe zu, dass ich mich vor Büchern dieses Ausmaßes fürchte. Mein erster Romanschinken war The Stand von Stephen King. Damals noch vom selbsternannten Meister des Grauens vereinnahmt, begann ich gleich zweimal von vorne, nachdem mich zwischenzeitlich der Mut verlassen hatte, die abermillionen Buchstaben auch wirklich konsumieren zu wollen. Bis heute hat sich die Ehrfurcht vor der Länge nicht gelegt. Eine gewisse Abscheu vor diesen Formaten mag sich dazugesellt haben. Wenn ich den Ulysses von Joyce betrachte (ich darf sagen: mein Lieblingsbeispiel, wenn es um Überdimensionierung geht) oder Die Enden der Parabel von Pynchon, dann gewinnt meistens die Furcht über die literarische Neugier. Einer unendlichen Geschichte konnte und wollte ich nie folgen, zu sehr faszinierte mich immer schon die Begrenzung von Literatur und Kunst generell. Warum zig Helden durch eine sich windende, immer kurz vor dem logischen Bruch in einen weiteren narrativen Schlupfwinkel flüchtende Handlung folgen?
Es ist eine unschickliche Frage. Zum einen, weil die adipösen Dichtungen keine Erfindung unserer Zeit sind. Wer Grimmelshausens Simplicissimus in der Hand hat, wird verstehen, warum. Zum anderen, weil der Roman sich das Recht herausnimmt, die größte, feinste, königlichste aller Gattungen zu sein. Lieblingsbücherbestsellerlisten sind Romanansammlungen. Wer Geschichten liebt, liest Romane. Dramen, Epik, Lyrik – alles Nischenprodukte im Vergleich zum Roman. Und der Leser mag es lang und länger. Harry Potter zaubert über tausende von Seiten – die Tintenherzen der Kinder pochen heute erst schneller, wenn das Buch mehr als 500 Seiten hat. Man will was zum Anfassen, braucht etwas, worin man versinken kann. Als Kind bin ich über Kalleblomquistlänge nicht hinausgekommen.
Der Krimileser hat es besser. Er giert nach Seitenzahlen. Spannend darf es nicht nur zwei, drei Nächte sein. Aber im Wunderland der Lesefolter liegt er nur im Mittelfeld. Man sollte den Mörder auch schon mal in einer Nacht fangen können.
Kein Krimiautor, der den Blick auf Verkaufszahlen richtet, würde seinen spannungsabhängigen Lesern 1000 oder mehr Seiten vorlegen.
Seit Margaret Mitchell dürstet die Frau nicht nur nach Herzschmerz, sondern nach Liebesdramen im XXL-Format. Richtig ernst machen aber sowieso jene, denen der Ernst der großen Erzählungen am Herzen liegt. Wer etwas aus sich hält, muss die 1000 Seiten-Hürde schaffen. Figuren für die Ewigkeit schaffen, am besten dutzende Leopold Blooms. Storys produzieren, die fesseln, zum Nachdenken anregen, tief in Historie und Philosophie eintauchen und gleichzeitig niemals langweilig werden. Der Prototyp dieses gelungenen Romans wäre dann Schuld und Sühne. Doch der ist in ein paar Tagen zu schaffen, scheitert ganz deutlich an der 1000er Hürde.
Das Rezensentenstöhnen darf man gerne auch vernehmen, wenn es um solche Brocken geht. Der Kritiker will zwar das Große und das Ganze, aber der Druck, darüber auch schnell berichten zu können, konkurriert mit der Aufgabe, das Buch auch entsprechend aufmerksam zu lesen. Andererseits ist es eine Kunst, vielleicht sogar eine Meisterleistung, kostbare Lebenszeit für so viele Seiten zu opfern, die nur überflogen werden. Unendlicher Spaß im Fast-Reading-Verfahren zu bewältigen ist kein Gewinn, sondern ein enormer Verlust.
Trotz meiner offenkundigen Präferenz für Kurzes und Kürzeres muss ich mir selbst zugestehen, dass die Angst vor den Bücherklötzen auch eine Ausrede ist. Faulheit steckt in Wahrheit dahinter; schlussendlich sogar das Zurückweichen vor der erwachsenen Leistung, etwas wirklich erzählt zu bekommen. So wie es eine erwachsene Leistung ist, etwas wirklich erzählt zu haben Ganz logisch erscheint es, dass man auf maximal 600 Seiten eine mitreißende, vielschichtige Geschichte erzählen kann. Das geht sogar noch auf 300 Seiten. Eine Welt aber, die über ein Menschenleben weit hinausgeht, kann man nicht auf Taschenbuchgröße begrenzen. Diese Aufgabe erfordert Zeit. Zeit zum Schreiben, Zeit zum Lesen.
Ohnehin darf es der Leser nicht leichter haben beim Lesen als der Autor beim Schreiben. Wer jahrelang über seiner Prosa brütet, darf auch vom Kunden/Leser verlangen, dass er entsprechend Zeit und Interesse investiert. Darin ließe sich ein ungeschriebenes Gesetz vermuten.
Stets haben die sich großen Autoren, also jene, die einer Geschichte alles abverlangen, ihre Figuren bis zur eigenen Schmerzgrenze in den Abgrund des Lebens stoßen, nur um sie das Leben zu lehren (nicht unbedingt, um sie danach das Leben auch meistern zu lassen), jene also, die zurecht als Intellektuelle gelten, weil ihre über Jahre dem eigenen dahinsiechenden Leben abgetrotzten Ideen in Form einer immer noch in Cafés, in Flugzeugen und Bahnen, vor allem auch auf weichen Lesesesseln genießbaren Fiktion daherkommen, die den furchtbaren Kampf mit den Widerhaken der autoreneigenen Gedankenwelt vielleicht noch erahnen, nicht aber erkennen lassen, in der Kunst des großen Romans geübt. The great american novel heißt es in den Staaten, zumindest ein Joyce oder eine Buddenbrooks muss es in Europa sein. Für Generationen, denen der status quo soziologischer, psychologischer, generell geistiger Erkenntnisse zutiefst fremd ist (aus bestimmten Gründen auch fremd sein muss), bietet der Große Roman – der als Eigenname gebraucht werden muss – den Ausweg aus der eigenen selbst verschuldeten Unmündigkeit über die Chronologie einiger stellvertretender Menschenleben in literarischer Form. Der Roman als Prisma der Zeitläufe. Der Autor als Geist, der stets verneint und der mit seinen geschickten Mitteln dort Ordnung entstehen lässt, wo eigentlich Chaos herrscht. Unterhaltung ist also nichts anderes als Ordnung auf 1547 Seiten, mögen die Handlungsstränge auch noch so unverbindlich auseinander laufen.
Es macht keinen Unterschied, ob man als wohlgesinnter Leser wochenlang Nazischlachtereien über sich ergehen lässt oder ob man mit einer Reise ins Elbenland gekonnt den langweiligen Alltag zurückdrängt. Bücher solchen Ausmaßes sind als Erfahrungen gedacht. Sie zu lesen soll eine Lebensaufgabe sein. So muss jeder Leser vorher prüfen, ob er sich an solch eine Erfahrung binden will, denn es lohnt nicht, einen Wälzer halbherzig anzublättern. Er muss auch bearbeitet werden.
Unendlicher Spaß!
Es steht außer Frage, dass der Lesemarathon dieses Klumpen einer magischen Odyssee gleicht. Wer nur die ersten zehn Seiten durchforstet, bekommt einen zaghaften Eindruck von Wallaces Hyperrealismus, der in der Literatur unserer Zeit seinesgleichen sucht. Hier hat ein Autor versucht, alles, was ihm in den Blick, was ihm zu Ohren gekommen – ja, was ihm in den Geist geströmt ist – zu fassen. Wallace versucht sich als Chronist der ADHS-verseuchten Spaßgesellschaft des Westens. Er kann nur so schreiben, weil er Teil dieser Welt ist, weil er mit allen Sinnen und einer überproportional ausgeprägten Intelligenz (eine damit verbundene und durch Drogenkonsum sicherlich oszillierende Hypersensibilität, die auch erschreckend ist, gehört ebenso erwähnt) ergreifen will. Wallace erleidet stellvertretend unsere aus den Fugen geratene Zeit. Da gleiten Worte über das Papier, die so fremd, so unnahbar erscheinen. Es sind zum großen Teil Worte, die sich der Popkultur bisher erfolgreich entzogen haben, weil sie einen eigenen, hermetisch abgeriegelten Kosmos beschreiben wollten. Wallace zerrt sie mit Gewalt und Neologismensicherheit in das Verdauungssystem des Pop, und wenn man so will und dies auch mutig zu sagen in der Lage ist, dann beschreibt Wallace hier auf Überlänge den Sieg der Populärkultur über jede erdenklich andere. Ein Pyrrhussieg sicherlich, destruktiv aufgeladen und letztlich sogar mit dem Schicksal des Autors verbunden. (Wer das bedrückende Leben dieses Autors nachempfinden will, der ziehe den hervorragenden Nachruf auf DFW, wie er gerne genannt wird, in der Rolling Stone Ausgabe vom Dezember 2008 zur Hand) Aber ein Sieg, den man als Leser miterleben, miterleiden kann. Wenn man denn die Muße hat für 1547 Seiten.
Das ist auch eine unendliche Qual.
Ich benötige im Schnitt für 50 gedruckte Seiten im gewöhnlichen Taschenbuchformat bei bis zu 40 Anschlägen bzw. Zeilen etwas mehr als eine Stunde. Meistens sind es etwa 65-70 Minuten. Das bedeutet, ich habe mit DFW einen unendlichen Spaß von über 33 Stunden reiner Lesezeit. Nur kann man diesen schweren weißen Block mit den grell-schwarzen Buchstaben
UN
ENDLicher
SPASS
nicht derartig kurzweilig überfliegen. Ohne Notizzettel und Stift wäre die Lektüre sinnlos. Die fiese Angewohnheit Wallaces, Fußnoten zu setzen – wie ungewohnt für den fliegenden Blick des gewöhnlichen Romanverschlingers – erschwert den Lesefluss. Ein gewolltes, gekonntes Verfahren, das zur Konzentration zwingt. Dieses Werk gleicht einer Enzyklopädie.
Ich gebe zu, dass ich mich vor Büchern dieses Ausmaßes fürchte. Mein erster Romanschinken war The Stand von Stephen King. Damals noch vom selbsternannten Meister des Grauens vereinnahmt, begann ich gleich zweimal von vorne, nachdem mich zwischenzeitlich der Mut verlassen hatte, die abermillionen Buchstaben auch wirklich konsumieren zu wollen. Bis heute hat sich die Ehrfurcht vor der Länge nicht gelegt. Eine gewisse Abscheu vor diesen Formaten mag sich dazugesellt haben. Wenn ich den Ulysses von Joyce betrachte (ich darf sagen: mein Lieblingsbeispiel, wenn es um Überdimensionierung geht) oder Die Enden der Parabel von Pynchon, dann gewinnt meistens die Furcht über die literarische Neugier. Einer unendlichen Geschichte konnte und wollte ich nie folgen, zu sehr faszinierte mich immer schon die Begrenzung von Literatur und Kunst generell. Warum zig Helden durch eine sich windende, immer kurz vor dem logischen Bruch in einen weiteren narrativen Schlupfwinkel flüchtende Handlung folgen?
Es ist eine unschickliche Frage. Zum einen, weil die adipösen Dichtungen keine Erfindung unserer Zeit sind. Wer Grimmelshausens Simplicissimus in der Hand hat, wird verstehen, warum. Zum anderen, weil der Roman sich das Recht herausnimmt, die größte, feinste, königlichste aller Gattungen zu sein. Lieblingsbücherbestsellerlisten sind Romanansammlungen. Wer Geschichten liebt, liest Romane. Dramen, Epik, Lyrik – alles Nischenprodukte im Vergleich zum Roman. Und der Leser mag es lang und länger. Harry Potter zaubert über tausende von Seiten – die Tintenherzen der Kinder pochen heute erst schneller, wenn das Buch mehr als 500 Seiten hat. Man will was zum Anfassen, braucht etwas, worin man versinken kann. Als Kind bin ich über Kalleblomquistlänge nicht hinausgekommen.
Der Krimileser hat es besser. Er giert nach Seitenzahlen. Spannend darf es nicht nur zwei, drei Nächte sein. Aber im Wunderland der Lesefolter liegt er nur im Mittelfeld. Man sollte den Mörder auch schon mal in einer Nacht fangen können.
Kein Krimiautor, der den Blick auf Verkaufszahlen richtet, würde seinen spannungsabhängigen Lesern 1000 oder mehr Seiten vorlegen.
Seit Margaret Mitchell dürstet die Frau nicht nur nach Herzschmerz, sondern nach Liebesdramen im XXL-Format. Richtig ernst machen aber sowieso jene, denen der Ernst der großen Erzählungen am Herzen liegt. Wer etwas aus sich hält, muss die 1000 Seiten-Hürde schaffen. Figuren für die Ewigkeit schaffen, am besten dutzende Leopold Blooms. Storys produzieren, die fesseln, zum Nachdenken anregen, tief in Historie und Philosophie eintauchen und gleichzeitig niemals langweilig werden. Der Prototyp dieses gelungenen Romans wäre dann Schuld und Sühne. Doch der ist in ein paar Tagen zu schaffen, scheitert ganz deutlich an der 1000er Hürde.
Das Rezensentenstöhnen darf man gerne auch vernehmen, wenn es um solche Brocken geht. Der Kritiker will zwar das Große und das Ganze, aber der Druck, darüber auch schnell berichten zu können, konkurriert mit der Aufgabe, das Buch auch entsprechend aufmerksam zu lesen. Andererseits ist es eine Kunst, vielleicht sogar eine Meisterleistung, kostbare Lebenszeit für so viele Seiten zu opfern, die nur überflogen werden. Unendlicher Spaß im Fast-Reading-Verfahren zu bewältigen ist kein Gewinn, sondern ein enormer Verlust.
Trotz meiner offenkundigen Präferenz für Kurzes und Kürzeres muss ich mir selbst zugestehen, dass die Angst vor den Bücherklötzen auch eine Ausrede ist. Faulheit steckt in Wahrheit dahinter; schlussendlich sogar das Zurückweichen vor der erwachsenen Leistung, etwas wirklich erzählt zu bekommen. So wie es eine erwachsene Leistung ist, etwas wirklich erzählt zu haben Ganz logisch erscheint es, dass man auf maximal 600 Seiten eine mitreißende, vielschichtige Geschichte erzählen kann. Das geht sogar noch auf 300 Seiten. Eine Welt aber, die über ein Menschenleben weit hinausgeht, kann man nicht auf Taschenbuchgröße begrenzen. Diese Aufgabe erfordert Zeit. Zeit zum Schreiben, Zeit zum Lesen.
Ohnehin darf es der Leser nicht leichter haben beim Lesen als der Autor beim Schreiben. Wer jahrelang über seiner Prosa brütet, darf auch vom Kunden/Leser verlangen, dass er entsprechend Zeit und Interesse investiert. Darin ließe sich ein ungeschriebenes Gesetz vermuten.
Stets haben die sich großen Autoren, also jene, die einer Geschichte alles abverlangen, ihre Figuren bis zur eigenen Schmerzgrenze in den Abgrund des Lebens stoßen, nur um sie das Leben zu lehren (nicht unbedingt, um sie danach das Leben auch meistern zu lassen), jene also, die zurecht als Intellektuelle gelten, weil ihre über Jahre dem eigenen dahinsiechenden Leben abgetrotzten Ideen in Form einer immer noch in Cafés, in Flugzeugen und Bahnen, vor allem auch auf weichen Lesesesseln genießbaren Fiktion daherkommen, die den furchtbaren Kampf mit den Widerhaken der autoreneigenen Gedankenwelt vielleicht noch erahnen, nicht aber erkennen lassen, in der Kunst des großen Romans geübt. The great american novel heißt es in den Staaten, zumindest ein Joyce oder eine Buddenbrooks muss es in Europa sein. Für Generationen, denen der status quo soziologischer, psychologischer, generell geistiger Erkenntnisse zutiefst fremd ist (aus bestimmten Gründen auch fremd sein muss), bietet der Große Roman – der als Eigenname gebraucht werden muss – den Ausweg aus der eigenen selbst verschuldeten Unmündigkeit über die Chronologie einiger stellvertretender Menschenleben in literarischer Form. Der Roman als Prisma der Zeitläufe. Der Autor als Geist, der stets verneint und der mit seinen geschickten Mitteln dort Ordnung entstehen lässt, wo eigentlich Chaos herrscht. Unterhaltung ist also nichts anderes als Ordnung auf 1547 Seiten, mögen die Handlungsstränge auch noch so unverbindlich auseinander laufen.
Es macht keinen Unterschied, ob man als wohlgesinnter Leser wochenlang Nazischlachtereien über sich ergehen lässt oder ob man mit einer Reise ins Elbenland gekonnt den langweiligen Alltag zurückdrängt. Bücher solchen Ausmaßes sind als Erfahrungen gedacht. Sie zu lesen soll eine Lebensaufgabe sein. So muss jeder Leser vorher prüfen, ob er sich an solch eine Erfahrung binden will, denn es lohnt nicht, einen Wälzer halbherzig anzublättern. Er muss auch bearbeitet werden.
Unendlicher Spaß!