November
Eine freie Assoziation

November du bist dunkel, kahl und kühl, gesichtslos gar, manchmal so traurig, dass ich dich kaum verstehen kann. Deine Stimme verzagt im Dunst des Regens. Du spielst den kargen Blues eines alternden Mannes, der den nahen Tod achso schrecklich spürt. Du riechst, wie furchtbar es ist zu verwesen. Und doch besitzt du eine wunderbare Magie – eine, die mit einfachen Worten nicht zu umschreiben ist, denn sie ist eine bitterliche.

Melancholie ist dir ferner als du glaubst, als du es wolltest. Das sagst nicht du, das sage ich, denn ich bewohne dich. Keine Angst will ich vor dir haben, doch habe ich sie trotzdem, denn deine manischen Klauen haben mich schon erfasst. Ich weiß nicht, wie ich mit dir umgehen soll, du bist so rätselhaft. Ja, was gibt mir das Recht, dich anzusprechen, wo du doch nur Schrecken schenkst.

Viele kennen dich nicht. Diese Mutigen – es sind doch nur wenige – erleben ihre verschenkten Tage nicht mit dir und doch mit anderen Musen. Du bist mir ein Feind und doch versuche ich dein Freund zu sein. Nur um dich zu verstehen. Da toben Winde über das Land, brausend, krümmend, pulsierend; Regen peitscht gegen das dünne Fensterchen. Wenn du wolltest, dann würden Blitze den asphaltgrauen Himmel zerstechen. Sie tun es nicht, weil du es nicht willst, denn du willst mich sehen, wie ich durch den modrigen Matsch stolziere, wie ich die Augen schließe, mich nach Licht verzehre (du sperrst sie weg, die holde Sonne), wie ich den samtenen Regen, den gesprühten, auf meiner Haut spüre, wie ich den nahenden Schnee einatme, wie ich die energische Spannung nur so in mich aufsauge (gestatte mir, dir zu sagen, dass ich dies liebe, auch wenn du das nicht willst).

Dann erzürnst du, wenn ich den Blues fühle, denn du willst mich am Abgrunde sehen. Und doch antworte ich dir ganz bewusst, dass ich das nicht will, denn es entspricht nicht meiner Sicht von dir. All dein Hass ist doch nichts gegen die Liebe, die im Leben schwingt. Du bist doch nur November, sagst du. Jetzt. Aber morgen bist du nur ein Abkömmling des Herbstes, eine Metapher für den nahenden Winter, für das Abgestorbene und Sterbende. Ich glaube deinen Versprechen nicht, denn du verstehst sie nicht in reizvolle Worte zu verpacken. Deine Stimme verliert an Kraft im Vergleich zur Poesie des Oktobers und der Heiligkeit des Dezembers. Nun wirst du zum zitternden Mäuschen und ziehst daraus deine Konsequenz: Glühender Regen, bittersüße Nacht, krümmende Einöde, verwesendes Blattwerk, kärgliche Äste, die im Winde auf und ab schwingen, ohne Energie, nur von dir geleitet.

Du malst schwarz und meinst doch weiß. Ich will dich – du rohe Schwarzweißskizze – verschmutzen mit bunten Farben des Glückes, die allem entgegenschlagen, was du erschaffen willst. Musik, Poesie, sich bewegende Bilder – alles Argumente gegen dich. Du willst doch nur etwas sein, was du nicht sein kannst. Melancholie, sagst du, wäre nichts als entsetzliche, nie zu verwindende Trauer – und du hast Unrecht, Unrecht, Unrecht. Wie gerne würde ich dir all das Leid der Welt zeigen, um dich zu bestätigen, doch nur ein weinendes Kind, nur ein in Schwermut und Weltschmerz versinkendes Menschlein gleicht deine Depression hundertfach aus. Denn es bedeutet, das Leben zu akzeptieren. Zu leben, weil leben auch Schmerzen bedeutet. Der Tod als Teil des Lebens – und so kann dein abergläubiges Geschwätz mir doch nichts tun. Auch wenn Angst meine Brust zertrümmert. Es ist meine Angst, die ich besiege. Mit jedem Tag, da du dich mir zeigst. Und so, komm her, lass dich küssen, du Teil meines großen, kleinen Lebens.

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