9/11


I

Es war bedrohliche Stille, die sich in diesem Moment über das Geschehene legte. Einfach nur Stille. Dann erklommen entsetzliche Schreie, wütende Sirenen und Angst die Situation, die wir heute als Start- und Fixpunkt mit dem 11. September und 8:46 Uhr beschreiben können. Die Welt war von diesem Zeitpunkt eine andere.

Der 11. September 2001 hat zwei Zeitgebilde. Abstrakte Welten, die getrennt voneinander existieren. Hier ist das Geschehen, das sich als Realität – unfassbare Realität – in unsere Seelen bohrt. Live im Fernsehen gesendet und damit bedrohlich zugleich, erscheint das Gesehene irreal und überreal zugleich. Dann ist dort diese zweite, eigentümliche Zeitebene, die nicht zu trennen ist von dem, was 3000 Menschen das Leben kostete: Milliarden Menschen, die wissen, was sie an jenem Tag getan und gedacht haben. Menschen, die jede Träne ins Gedächtnis zurückrufen können, die sie vergossen haben und jede Sekunde dieses Tages noch lebhaft in Erinnerung zurückrufen können. Diese zwei Ebenen verzahnen sich zu einer Vorstellung, die sich aus dem kollektiven Gedächtnis nicht mehr löschen lassen können. Eine Wunde, die klafft und deren Schmerz keine Linderung findet.

Immer wieder kommen sie, diese Bilder; zwei Türme, durchbohrt von einem Messer, das den menschlichen Fortschrittsglauben über Jahre definierte – die Maschine, welche den Menschen den Ikarustraum erleben lassen. Zwei Gebäude, die das symbolisieren, was die Welt nach den Vernichtungskriegen des 20. Jahrhunderts zusammenhalten sollte. Zerstört. Menschen, die aus dem getroffenen und dem Untergang geweihten Gebäude springen und deren arme Leiber mit einem dumpfen Hall auf dem kahlen Boden aufschlagen: unvergesslich. Das Leid dieses Tages ist ein gemeinschaftliches, weil es wie ein Spektakel in jede Wohnzimmerstube gebannt wurde.

Ein paar Minuten vor Drei. Ich sitze am Essenstisch. Kartoffelsuppe. Meine Schwester sitzt mir gegenüber, meine Mutter neben mir. Hinter mir zwitschern Wellensittiche. Im Radio: klassische Musik. Dann eine Durchsage: Ein Turm des World Trade Center würde Rauchkaskaden in den Himmel spucken. Überraschte Beklommenheit. Nur zwei Minuten später meldet sich die selbige, ebenso von den Ereignissen überraschte Stimme wieder: Es sei ein Kleinflugzeug, das in den Nordturm des WTC gestoßen sei. Die Nachrichten um 15 Uhr – immer noch Radio, verkünden den verhängnisvollen Zusammenprall mit bedeutsamer Innbrunst. Das Kleinflugzeug sei, so wird verlautet, doch ein größeres, vielleicht sogar ein mittelgroßes Passagierflugzeug. Meine Mutter rät, was mir auf der Zunge liget, nämlich den Fernseher einzuschalten. Ich bin mir sicher gewesen, dass CNN übertragen musste. Als der dunkle Bildschirm die Konturen RTLs freisetzt und ich Peter Klöppel sehe, wird mir klar, dass dieser Tag ein besonderer würde. Eine Unterbrechung des Nachmittagsprogramms für eine kurze Nachricht ist angekündigt. Dann schlägt das zweite Flugzeug in den Südturm des WTC. Live im Fernsehen. Entsetzen bestimmt meine Reaktion. Meine Mutter und ich schauen uns wie gelähmt an. Ich schalte auf CNN. Gehetzte Stimmen versuchen das Gegenwärtige zu analysieren; hilflos und ohne Bewusstsein dafür, wie all das einzuordnen ist. Die angekündigte Programmweiterführung bei RTL verkommt zum kurzartigen Werbeblock, der eiligst durchbrochen wird von der wiederholten Ansage des zweiten Flugzeugeinschlags. Das Radio lief weiter; neben dem Fernseher. Synchrones Atemanhalten. Bei RTL keine Werbung mehr. In der ARD Wickert. Im ZDF Seibert. Bis 16 Uhr haben die wichtigsten Sender ihr Programm komplett umgestellt. Bis 18 Uhr sollte kein Sender mehr das übliche Programm senden. Ein Novum. Der Tag, an dem sich die Welt verändert hat. An dem sich auch mein Leben verändert hat. Von 15 Uhr bis ununterbrochen 1 Uhr sehe ich das, was in 102 Minuten eine Weltmacht erschüttert und die Weltpolitik bis heute beeinflussen sollte. Ich kann nicht an mich halten, muss weinen, bete für die Opfer (ich schätze sie an diesem Tag auf deutlich mehr, als es Gott sei Dank waren), eindringlich und intensiv; meine Schwester fragt mich, was ich tue. Das Gebet erstaunt sie. Sie schien nicht zu verstehen, was dort gerade passiert ist. Sie verlässt das Haus, um sich mit Freundinnen in den Borsighallen zu treffen. Ich bleibe zurück und mich drängt es, mich mit jemandem auseinanderzusetzen, zu reden. Alleine will ich das nicht ertragen, könnte ich es nicht ertragen. Das Pentagon steht in Flammen. Eilschaltung nach Washington. Ich telefoniere mit einem Freund, Charles, und berichte ihm von meinen Bilderfahrungen. Er ist genauso erschrocken wie ich und auch ihm scheint es wichtig gewesen zu sein, darüber zu sprechen. Wieviele sind in den Türmen eingeschlossen? 20. 000? Ich sage zu Charles, dass diese Stahlkolosse in sich zusammenfallen werden. Er ist erstaunt. Ich erzähle von einem Film, Flammendes Inferno, indem es um ein brennendes Hochhaus gegangen ist, das droht, in sich zusammenzufallen. Am Bildschirm zurück wird meine Angst auf grausamste Weise bestätigt. Wie dort bei RTL der US-Korrespondent mit erschüttert-brüchiger Stimme das Zusammenfallen des Südturmes beschreibt, bleibt in meinem Gedächtnis genauso haften wie der Chef von Bertelsmann, der unter tiefer Trauer das Niedergehen des zweiten Turmes beobachten muss. Seine Trauer ist unsere Trauer. Seine Angst ist unsere Angst. Ein weiteres Flugzeug über Washington heißt es. Der Luftraum ist abgesperrt. Dann die Information über ein angeblich abgestürztes Flugzeug in Pennsylvania. Das Grauen findet kein Ende. Immer wieder die selben Bilder, immer und immer wieder. Kaum zu ertragende apokalyptische Visionen, die zu Albträumen führen. Im Telefonat mit meinem Vater erlebe ich Bestätigung meiner Gedanken. Die Welt ist eine andere.

Am Tag darauf titelte die BILD mit „Großer Gott, steh uns bei!“. Presse und Politik waren sich einig, dies war eine Kriegserklärung an die Menschheit. Erst die zufällig erwählte Musik Enyas gab dem Nichtverstehbaren eine Traurigkeit, die man erleben konnte, fühlen musste. Bilder von Ground Zero, den Überresten des WTC, erinnerten an einen jenseitigen Ort. Ich regte mich über Lehrer auf, die nicht verstanden, welche Tragkraft dieser Ausnahmetag in der Geschichte der Menscheit hatte; der Nachmittag des 12. September war ein freier und ich verbrachte ihn zum Gedenken in der Stadt, um einerseits für einen Frieden zu demonstrieren, der vielleicht nie einer war und nun von Terroristen – also keinem Staat – bedroht war und andererseits zu traueren.

Im Juli hatte ich einen Traum gehabt; er entstand unter fibriger Erkrankung meines Darms. Dort saß ich mit einigen Menschen in einem Garten. Es ist ein Urlaubsort und dunkel. Am Himmel erscheinen zwei helle Punkte und sie bewegen sich mit ungeheurer Geschwindigkeit der Erde entgegen. Dort schlagen sie ein und es entstehen zwei Feuersäulen, geprägt von Erschütterungen. Eine gigantische Flutwelle (ist es Wasser?) reißt mich um. Ich erwache schweißgebadet, spüre die Erschütterungen nachwirkend in meinem Körper und in meiner Seele.

II

Heute stehen wir vor dem Gedenken eines Terroraktes, der mehr und mehr Symbol geworden ist und mithin für eine bedrohliche, von Angst durchzogene Zukunft steht, die Sicherheit nur durch Einschränkung von Freiheiten kennt. 5 Jahre danach gilt es, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, nachdem Militärschläge gegen den Irak und Afghanistan höchstwahrscheinlich eher das Gegenteil bewirkt haben und einen unsichtbaren Gegener damit gestärkt haben. Der Islam verkommt zum unverständlichen Politikum, der immer mehr zum Subjekt des Bösen wird. Die USA führen einen Kampf gegen das scheinbar grundlose Übel und erleben, wie sich einstige Freund von ihnen abwenden. Die Welt, sie ist eine andere. Doch gerade die Bedrohung eint sie wieder. Der Terrorismus ist nicht Zeichen verblendeter Ewiggestriger gegen die Globalisierung. Im Gegenteil. Der moderne Terrorismus ist Kind der Globalisierung. Al Qaida funktioniert als Symbol genauso wie Coca Cola, Al Jazeera oder Apple. Wir müssen lernen, mit dierser Gefahr zu leben, die Hans Magnus Enzensberger einem grundlosen Überl zuordnet, das inhaltslos ist (und deren Erklärungsmuster folglich egal wäre). Verschwörungstheorien erschüttern das Selbstbewusstsein der propagierten Wahrheit, doch scheinen sie nur Ausdrucksmittel der Angst des Menschen zu sein, der die Ausmaße einer solchen Katastrophe bzw. deren Urheber nicht akzeptieren will. Der Bildersturm scheint in Zeiten der Bildbearbeitungsprogramme an sich schon als verdächtig. Ein von einem Studenten erfundenes Nostradamuszitat, das die Ereignisse schon vorhersehbar gemacht hätte, steht genauso als Zeichen für eine diffuse Unerklärbarkeit der Ereignisse wie das Aufscheinen einer Teufelsfratze im der Explosionswolke des Südturms. Angst verzerrt und verzehrt Hoffnung. Wie soll man auch das zum Bösen erklärte besiegen, wenn es den Tod nicht fürchtet? Schließlich ist es die äußerste ultima ratio eines Staates, dem Bösen mit dem Tod zu drohen. Der 11. September war fremdartigste Kommunikation, die wir bis heute nicht verstehen und die alles, aber auch wirklich alles, über die Denkweise einiger Menschen aussagt, die wir vielleicht nie verstehen werden und die dem Weseten als Hochkultur den Kampf angesagt haben. So unwirklich doch alles erscheint, hat der 11. September eine Bedeutungsschwere, die auch jenseits des Politischen zu verorten ist.

Der 11. September ist das Eintreten in das 21. Jahrhundert; ein weiterer Schritt, der einer global vernetzten Welt verdeutlicht, dass sie höchstwahrscheinlich einem Irrtum erlegen ist, wenn sie glaubt, dass Wohlstand alleine und ethische Werte, die den Götzen Geld als Ursprung haben, nicht ausreichen, um gemeinsam friedlich miteinader zu leben.
Die moderne Technik hat die Welt um uns herum erlebbarer gemacht, aber unsere moralischen Werte und unsere intellektuellen Fähigkeiten, über das Leben und das Gelebte zu sinnieren, sind den Möglichkeiten der Gegenwart gegenüber gnadenlos verkümmert. Wie viele Menschen haben nach dem 11. September an ihrem heimischen Flugsimulator, der mit Microsoft-Betriebssystemen zugeschickt wird, ausprobiert, wie es ist, in den World Trade Tower zu fliegen? Wievielen Menschen stößt der Schweiß ins Gesicht oder die Angst in die Kehle, wenn die die Bilder dieses unglaublichen Tages immer wieder sehen? Noch haben wir keine Methode gefunden, unsere Gefühle auf solch eine Destruktivität einzustellen.

Alleine die Rechtfertigung der Daseinsberechtigung unserer ausgewählten heiligen westlichen Welt wird nicht reichen, um den Hass zu verbannen. Deshalb ist es durchaus möglich, dass wir als Menschen, die über 50 Jahre lang eine unglaubliche, einzigartige Freiheit und Friedlichkeit geschenkt bekommen haben, die historisch einmalig war und ist, von nun an in ein Zeitalter eintreten, das unseren Hoffnungen von Frieden und Glück nicht mehr entspricht.
Deshalb müssen wir für das Lebendige kämpfen und das Destruktive und damit Lebensverachtende verstehen lernen. Nur dann haben wir die richtigen Lehren aus 9/11 gezogen.

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