Poesie der Melancholie (oder: Von der Einsamkeit des Herzens)

Alles in den Händen habend, das Schöne in sich aufspüren könnend, angstlos gen Himmel blickend – Formeln des Glücks, die durchbrochen werden von einer sanften Schwermut. Der Melancholiker, er ist anscheinend ein Sterbender, der sich dessen bewusster ist, als jeder andere. Ein Angeschossener, der blutend auf dem Asphalt liegt und das Leben an ihm vorüberziehen sieht. Das Verbluten soll ein angenehmer Tod sein. So denn man dies vom Sterben behaupten kann. Was bedeutet unendliches Glück? Meister der Lebenskunst haben darauf über Jahrhunderte, Jahrtausende, vielleicht gar noch früher, sinniert und sind zu so beängstigend gleichen Ergebnissen gekommen, dass sich der moderne Weltgeist, der depressiv und entfremdet die Welt durch einen schmutzigen Spiegel betrachtet (vielmehr nur so beobachten kann), duckend fürchtet. Selbsterkenntnis, Selbstbesinnung, Selbstbestimmung – wie sehr bedeutend ist es, sich selbst zu finden; und der Narziss, das sich selbst fremde Wesen, die Antithese der Selbstliebe, weiß von sich nichts und wird es – das Ich – nimmer mehr kennen lernen. Die Trauer gräbt sich aus den Mulden des mitleidigen Lebens und frisst vielleicht alle Lebendigkeit auf. Wäre sie doch nur verständlich, man könnte sie zur Rede stellen, sie befragen, warum sie schmerzen lässt und zur Verbrennung des ureigenen Ichs anregt. Der moderne Mensch lebt nach dem für ihn unbewussten Leitspruch: Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Er spürt den wachsenden, sich dehnenden Tumor in seiner Brust, unterhalb seines Herzens, nicht. Stilles Leiden wird in Alkohol ertränkt, mit Bildern vermengt, mit Musik erdroschen, mit Grenzerfahrungen unerkenntlich gemacht. Der moderne Mensch, ein Achterbahnerbauer, der nur so intensiv wie möglich die ungeheure Schwerkraft überwinden will, jene Erdenverhaftung, die zur Kontemplation andauernd zwingt. Der Schwermütige vollzieht den Schmerz und erhält selbst in Zeiten bewusster Freude, dem Lebenselixier, Kontraktionen der schwersten Qualen, die sich in seine Seele pressen. Die Seele, das kleine Vöglein, eingesperrt in einem Käfig, der vergoldet wirkt, will entfliehen, sich der Freiheit ergeben. Der melancholische Mensch, er lässt das Vöglein, das bunt gefiederte, nicht fliegen, weil er weiß, es würde in der rauen Freiheit nur Minuten überleben können, bevor es qualvoll stürbe – denn es ist nicht gerüstet, die Wahrheit, das Wilde, zu verstehen. Das Glück liegt im Zwischenmenschlichen, ein Begriff, der sich ob seiner Bedeutung nur schwer entschlüsseln lässt, verrät auf grammatischer Ebene eine geheimnisvolle Transzendenz des Dazwischen und auf semantischer Ebene entlädt er eine Unmöglichkeit, die nur durch Selbstbestimmung überwunden werden kann. Wer nicht bei sich ist, der kann nicht bei anderen, mit anderen, sein. Die Melancholie weiß das, sie spielt damit und gewährt das Unglück, in die Menschen – in ihre trostlosen Seelen – blicken zu können. Ein Tor, welcher sich Tränen verschämen kann. Unbequem wirkt die Last des Freigeists mit der Trauer in der klammen Lunge; es ist der Sterbende, der aber mit den Engeln sprechen kann – mit den Geistern des Glücks – die ihm versprechen, dass es Licht im Dunklen gibt (freilich ein unscheinbares) und darüber singen, fröhlich und mit der innbrünstigen Freude des Höchstlebendigen. Glühend zerberstet das Herz des Einsamen, des stetigen Außenseiters, sollte er Kind des Saturns sein, weil es innig lieben will und in ihm sich stets das Wesen eines Poeten verbirgt, der hinter der beißenden Realität ein Märchen erdichten will, das Schönheit gewährt. Bewältigung der höllischen Qualen. Ägypter, Athener, Römer, Byzantiner, Pariser, New Yorker erklommen den Gipfel dieser grundlosen Traurigkeit, die eben keine Depression nur eindeutig aufzeigt, sondern ein Gefühl des Trostes, der sich aber hinter der Erkenntnis des Blicks in die Hölle, in den Tod, in das Nichts, verbirgt. Diese Sicht, die jener Leuchtturmwärter der Seele nie wieder vergessen wird, macht ihn zum zwangsläufigen Außenseiter, egal, was er dagegen tun wird. Alle Versuche, der Bilder des Todes, des Klangs der Endlichkeit, des Geruchs des Todes zu entkommen führen gerade zu jenem. Paradoxie und Dialektik des Melancholikers, der das Glück kennt wie einen guten Freund, welcher aber weit, weit weg nächtigt. Das lässt den Schwermütigen weinen und doch spürt er die Nähe dieses Verbündeten vielleicht mehr als jeder andere.

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