Echt Horrorshow!
Was soll das alles?
Was soll das alles?
Bis zum heutigen Tage habe ich immer gedacht, mich wird so schnell nichts Künstliches negativ beeindrucken, schocken, bedrücken. Ich habe mich geirrt. Was habe ich schon alles gesehen? Grauenhafte Bilder, suggestive Pamphlete, Hardcore hie und da. Aber was konnte schon wirklich die Seele beflecken? Immer kam der abgeklärte Mensch zuvor, der alle Bilder nur als Schauspiel entlarvte. Nun, was diskutiert wird, ist nicht mehr erschreckend. Verbal zerfleischt ist die visuelle Gewalt nur noch ein Zitat der innerlichen Erregung. Das Adrenalin verstummt; die gewaltsame Überraschung verkommt zum ironischen Kommentar. Der Film hat der Literatur in Bereichen der Subversion den Schneid abkaufen können. Dann kam das Fernsehen. Nun ist es das Internet. Aber was kann schon erregen in einer Welt der Bilder, die auf das Äußerste die Gefühle korrumpiert und so keine äußerliche Angst mehr zulassen will. Die Subversion im Kinofilm ist nichts Neuartiges. Kein Medium - von der Höhlenmalerei bis zum Podcast - konnte im Stillstand verharren. Die gesellschaftliche Provokation, das Austesten geschmacklicher Grenzen ist ein normaler, man möchte sagen gesunder menschlicher Prozess. Was aber bedeutet Subversion im Google-Zeitalter, in der Matrix-Welt des Kinos und dem Big-Brother des Fernsehens? "Uhrwerk Orange" war seinerzeit eine kreischende Horrorshow, gnadenlos und pessimistisch, als soziokultureller Diskurs wütend dem Publikum entgegengepeitscht, eine Zumutung. "Saló oder die 120 Tage von Sodom" war Pasolinis Todesurteil (Kubrick verbot sein Uhrwerk in England nach einschlägigen Morddrohungen höchstpersönlich; ein Novum in der Filmgeschichte), "Deep Throat" begründete antiparallel einen verlogenen porn chick, und dann kam lange nichts, was den Normalkonsumenten erschüttern könnte.
Heute schockiert Michael Haneke, oder auch Gaspar Nöe, genauso Michael Winterbottom, mithin auch Larry Clark, der sich mit der Pubertät hochintensiv auseinandersetzt. Die Postmoderne hat im Kino Einzug erhalten, nachdem das sinnentleerte Bilderkino, das ästhetishe Augenvarieté der 80er Jahre, ausgedient hatte. Filme wie "Das Schweigen der Lämmer" oder vor allem "Pulp Fiction" waren Zitatmaschinen, die keinen Sinn für sich mehr beanspruchen wollten. - Ihr Sinn ist ihre Sinnlosigkeit. Die Moral im Film verschwand, John Doe, Kevin Spacey, vernichtet sie in "Sieben" geleich für ganz Hollywood mit. Was erschütterte die 90er Jahre? Das Kino erschüttert nichts mehr; es fechtet eine Inhaltsleere aus, füllt diese mit digitalen Effekten, bis "Blair Witch Projekt" kommt und die Filmwelt implodieren lässt. 90 Minuten Anti-Kino. Gewalt und Sex im Kino der 90er? Da waren Catherine Breillat oder Patrice Chéreau und gerade Larry Clark, die den Sex emanzipierten und eigentlich störten. Da ist Tarrantino, der Gewalt als Spielball für inhaltsleere Zitatentableaus nutzt, da ist Oliver Stone, der noch am ehesten den Faden von "Uhrwerk Orange" wieder aufnimmt ("Natural Born Killers"). Das Slasher-Kino erhält Einzug und ist Musterkind postmoderner Verränkungen im Kino. Aber was bedroht? Was ist berückende Gewalt gegen die Seele? Subversives Kino im Mainstream? Vor dem Kino ist immer noch das Fernsehen, das verstört. "Big Brother" und der Sex vor der Kamera waren noch Zitate einer gewünschten drastischen Realität, die bei einschlägigen MTV-Shows wie "Jackass" Anklang fanden, sind es auch immer noch. Schadenfreude als modernes Prinzip der seelisch-geistigen Hilflosigkeit. Theatro Mundi für die Cyber-Generation. Das erwirkte ethische Diskurse zuhauf.
Das Internet war natürlich schon viel weiter. Webcams, Pornographie, interaktiver Sex. - Cybersex bleibt dennoch Utopie. Subversion findet im Internet einen anderen Weg; man findet einfach keine rechtlichen Schranken, sie scheinen unsichtbar. Das wird sich ändern - irgendwann wird Zensur eine viel größere Rolle spielen müssen. Überhaupt: Zensiert werden Videospiele, Post-Erfurt, Post-Columbine, als grausige Zeitverschwender und Aggresivmacher einer gelangweilten Jugend ohne Ideale und ohne Moral. "Kids" - Larry Clark. Here we are now, entertain us - Nirvana. Nazimusik, Hip Hop, Techno, was auch immer, die Musikwelt versucht zu provozieren, sie scheitert geradezu an sich selbst, weil kostenlos verteilt wird. Der Schrecken verfliegt in einer Zeit, deren Geist immer mehr Geschwindigkeit abverlangt. Die Zäsur ist der 11. September. Politik ist wieder wichtig; die westliche Welt entdeckt Ängste, die sie ins Unterbewusstsein abgetreten hat, wieder, und damit bekommt das Visuelle eine neue Potenz. Die Fernsehbilder der sich wie Messer in die Türme bohrenden Flugzeuge, die einfallenden Symbole der Macht des westlichen Systems, sind in jeder Hinsicht das Erschreckendste, das sich im Fernsehen in einer Live-Übertragung denken ließ. Mit der Handkamera im Gepäck filmt ein Bruderpaar den verzweifelten Kampf der Feuerwehr um Menschenleben.
Handkamera? Die Subversion des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr Cinemascope. Nach Dogma, nach Lars von Trier, ist das europäische Kino ein verwackeltes, das in Filmen wie "Idioten" (eben von Lars von Trier) auch gerne errigierte Penisse in Großaufnahme zeigt. Handkamera bedeutet Bewegung, Überraschung, aber vor allem sich ausdehnende Realität. Das florierende Genre des 21. Jahrhunderts im Film ist die Dokumentation. Hardcore-Handkamera. Fiktion? Michael Moore als Satiriker auf dem Weg, die Welt über Amerika aufzuklären. Mokumentarys? Keine Erfindung der Neuzeit. Man erinnere sich an die Beatles, Richard Lesters "Yeah, Yeah, Yeah". "Brothers of the Head", gerade bei der Berlinale im Panorama-Bereich gelaufen, ist eine solche fake documentary, die von einem erdachten Zwitterpaar handelt, das Musikkarierre macht. Komplizierte Fiktion, äußerst realistisch. "Kubrick, Nixon und der Mann im Mond", eine kleine gemeine fake documentary, spielt mit Aussagen von hohen Regierungsbeamten, denen man zu gerne Glauben schenkt. Kubrick hat den Flug zum Mond gefilmt? Keineswegs. Geschickt. Subversiv. Politische Subversion ist gerade wieder aktuell, weil wir in einer unruhigen Zeit leben, das Ende der Geschichte ist doch nicht erlangt. Man muss nicht viele Filme aufzählen, wenn sogar Steven Spielberg, der Hüter Hollywoods, sich diesen Bereich vornimmt.
Es muss immer härter werden, Folterbilder, die um die Welt gehen, sind keine Überraschung, sie sind nur Bestätigung einer völlig logischen Entwicklung. Das Gewaltkino, das Gewaltfernsehen, die Gewaltmusik des 21. Jahrhunderts ist geprägt von einer sinnesreizenden Über-Überflutung. Sexistisch, grausam, unmoralisch. Das Internet erbricht sich im Gonzo-Porno, das Videospiel will hyperrealistisch Blut spritzen lassen, der Hip-Hop will Geld und Frauen im Überfluss, das Fernsehen hat seine amoralischen Geldspielchen und "South Park". Aber all das ist doch schon längst zu einfach, zu gewohnt. Das Fernsehen als Großmedium ist noch umkämpfter Kulturschauplatz, über 200 Minuten wird es täglich allein in Deutschland konsumiert, deshalb findet es Platz für Zensur und Debatte. Internetfernsehen und Podcast könnten die visuelle Subversionsquelle der Zukunft sein!
Ich habe unlängst, um nach einem solchen interkulturellen Vorspiel auf das Wesentliche zurückzukommen, Michael Hanekes "Caché" gesehen und war bedrückt. Ich habe noch einmal davor, gerade wegen "Caché", Hanekes "Funny Games" gesehen. Eine Meditation über die Gewalt im Film und ihre abartige Konsumierbarkeit. Haneke macht sie unkonsumierbar, er tut der Gewalt Gewalt an. Ich war erschüttert, konnte schlecht schlafen. Vor zwei Tagen sah ich eine Folge der exellenten Serie "Six Feet Under". Ein Anachronismus des modernen Fernsehens, bildgewaltig, tiefschürfend, berührend. Eine Seifenoper ohne Seife, dafür mit ehrlichen Gefühlen. Über 30 Minuten wird hier ein Serienhauptdarsteller gequält, beinahe erschossen. Er muss völlig verlassen zurückbleiben, verängstigt und ohne Wüde verletzt. Das ist grausam, aber auch brillant inszeniert, denn die Serienfolge beginnt wie jede andere, zeigt in verschiedenen Erzählstängen, was ihre Figuren bewegt, nur um für die gewaltige Bedrohung einer ihrer Mitglieder gebannt bei einem Schauplatz zu bleiben. Alles andere ist egal, unwichtig geworden gegenüber der Gewalt. Und es bleibt kein Grund. Keine Moral. Das Warum wird nicht beantwortet. Schlaflosigkeit.
Heute habe ich "A Hole In My Heart" gesehen. Ein Film von Lukas Moodysson.Ich bin begeistert von Moodyssons Filmen. Der Schwede hat mit "Fucking Amal" eine grandiose Teenagerstory von Liebe und Weltschmerz inszeniert, mit "Zusammen!", eine beissende Abrechnung über die Flower-Power-Kultur gemacht und in "Lilya-4-ever" eine gewaltig-rohe Tiefe erreicht, die ich von wenigen Regisseuren erlebt habe. Ein Mädchen, das von allen verlassen wird und von ihrem scheinbaren Retter als Prostituierte in ein anderes Land verkauft wird. Der Pessimismus der schroffen Bilder bei diesem europäischen Filmgroßwerk ist kaum zu ertragen. Und nun kommt "A Hole In My Heart". 92 Minuten, Handkamera. 4 Darsteller, ein Zimmer. Ein Mann dreht mit Freund und einem jungen Mädchen Heimpornos. Der Sohn, ein mitleidiges Opfer, entzieht sich. Es gibt nur Sex, Schmerzen und Körperflüßigkeiten. Eine Fressorgie. Kotzen, auch auf Menschen. Stopfen. Würgen. Man kann das nicht ertragen. Alles ist echt, die Schauspieler improvisieren - sie haben die selben Namen wie die Figuren. Nirgendwo Hoffnung. Alle sehnen sich nach Liebe und Geborgenheit und finden: nichts. Eine Dokumentation wie "Big Brother" - alle Darsteller sprechen mit der Kamera und so mit dem Zuschauer. Und alles sieht aus wie einer dieser Gonzo-Pornos, die nur nach dem schärfsten Extrem suchen, immer weiter gehen von Würde nichts mehr wissen wollen. Urinale, orale, anale, banale Penetration von Geist, Körper und Seele.
Was soll das alles?
Ich sitze alleine in meinem Zimmer und möchte mich übergeben. Ein Gefühl, das ich noch nach keinem Film erlebt habe. Diese Bilder möchte ich aus meinem Gedächtnis löschen, denn sie schmerzen, weil sie so sinnlos sind, so leer, so tot, und dennoch so gewalttätig, so intensiv. "A Hole in My Heart" ist eine grauenerregende Zumutung und mit wenig zu vergleichen. Wie kann ein so begabter Regisseur so sehr aus dem Rahmen fallen und sich einem solchen Experiment hingeben? Experimentaler Irrsinn. Und zum ersten Mal in meinem Leben bin ich kaum in der Lage, ein solches Werk zu beurteilen, ohne mich abwenden zu wollen. "A Hole In My Heart", der hinter seiner abscheulichen Fassade doch eigentlich nur die Suche nach Liebe umschreibt, ein Universalthema, das menschliche Urthema, ist die filmische Deklinierung einer aus den Fugen geratenen, so hoffentlich niemals existierenden Zukunft, die keine Hoffnung mehr kennt. Und es bleibt nur Srachlosigkeit.
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