Vom Versuchen eines Blogs


In Sitcoms gab es früher einmal die Tradition, einzelne Episoden zu senden, die Rückblicke aus anderen Folgen zeigten. So saßen etwa die Golden Girls nachts vom Hunger auf Käsekuchen geweckt beieinander und sprachen am Küchentisch über Erlebnisse aus der Vergangenheit, die dann auch eingeblendet wurden. Das hatte mehrere Funktionen: Es ergab einen nostalgischen Rückblick, es versicherte den Zuschauern, welche Themen in der Serie von Belang sind, es brachte Erzählmaterial für eine emotionale Zusammenführung der Figuren und es schenkte etwas Erleichterung am Set, wenn einmal nur wenige Szenen gedreht werden mussten, die dann von älteren Sequenzen angereichert wurden. 

Vielleicht funktioniert dieser Blog auch ein wenig so wie diese mal nachdenklich stimmenden, mal warmherzigen Serieneinsprengsel, die an sich wenig Eigenwert haben, aber auf eine sehr elegante Art nebenher deutlich machen, was eigentlich in einer langen Erzählung wichtig ist. Die Story dieser Melancholy Symphony hat vor exakt 20 Jahren damit begonnen, meine ausgehende Schulzeit bereits als Zustand des Rückblicks auf meine ebenfalls verstreichende Jugend zu verwenden, sie zu einem Stoff werden zu lassen, an dem ich mich abarbeiten kann. Ich schrieb von einem Psychologie-Test, den ich an meiner Schule verteilen wollte, der die Notwendigkeit eines Schulfachs Psychologie bezeugen sollte. 

Als S und ich uns dieses in mehrfacher Hinsicht ironische Verfahren ausdachten, verbrachten wir viel Zeit damit, uns bei der Produktion der Fragen gemeinsam zu amüsieren. Ob wir das Unternehmen ernst nahmen oder einfach nur unsere Eitelkeit befriedigten, an der Schule irgendwie zu wirken, und zwar in genau dem Moment, da sie uns bald sanft ins Leben hinausschubsen würde, darf offen bleiben. Wir versicherten uns so jedenfalls gleichsam unserer kritischen Einstellung gegenüber einer Institution, die eigentlich fürs Leben ausbilden will, aber meist über den Nürnberger Trichter nicht hinaus kommt, und dem heitertraurigen Bewusstsein, dass alle Herausforderungen, die noch kommen sollten, sehr viel schwieriger zu bewältigen sein würden, als eine Physikarbeit zu bestehen oder eben mit einem Test hausieren zu gehen, der völlig ohne Verständnis für statistische Notwendigkeiten auskam. 

Aber darum geht es ja, etwas auszuprobieren, etwas zu versuchen. 

Und so ist auch dieser Blog, über dessen Stil, seine methodische Ausrichtung, kitschiger vielleicht: seinen Herzschlag, ich schon vor 15 Jahren eine Philosophie geschrieben habe, für die ich mir ohne freundliche Genehmigung einen Titel von Adorno geliehen habe, nichts anderes als ein mal mehr oder mal weniger gescheiterter Versuch. Wohlwissend, dass mein Schreiben etwas völlig anderes will als der Mitbegründer der Frankfurter Denkschule. Aber auch, weil dieser Blog so nicht existieren würde, wenn ich nicht am Lernen der Philosophie in der Universität gescheitert wäre. Versuche also, so wie sie Montaigne sich erdacht hat, der ein wenig das Maskottchen für mein hingeworfenes Sinnieren ist. Wie auch Vorbilder Gelehrte wie Erich Fromm, Sigmund Freud, Franz Kafka, Gilles Deleuze, Jean Baudrillard, David Foster Wallace, Arthur Schnitzler und all die anderen Schwärmer sind, die über das Thema schrieben, von dem ich sehr schnell merkte, das es umso weiter sich vom Begreifen entfernt, wenn man ihm mit seinem Namen zu Leibe rückte. 

Versuche also auch, jetzt darf das in bereits allen Varianten seit Jahrhunderten verzierte Ding genannt werden, über die Melancholie. Ohne je einen Begriff in den Raum geworfen oder ein lexikalisches Zeichen eingesetzt zu haben, ist all das hier eben auch als eine Art Enzyklopädie einer Sprache des Brütens, Verzagens, Träumens zu begreifen. Ich habe diese Leinwand vollgekleckst mit Ungeheuerlichkeiten, mit Sehnsüchten. Ich habe wesentlich mehr Fragen gestellt, als ich Antworten geben könnte (ein Verfahren, das ich beim Dozieren nicht mehr loswerde). 

Ich habe versucht, meiner offenbar nicht versiedenden Liebe zum Film einen Rahmen zu errichten und meiner spät sich offenbarten Leidenschaft für Musik Raum zur Entwicklung zu geben. Ich habe über das, was meine Generation ausmacht, nachgedacht, bevor alle sie Millenials (cleverer: Generation Y, oder noch cleverer Generation Why) nannten. Ich habe über Zeitschriften geschrieben, die kamen und gingen. Ich habe eine Zeitenwende heraufbeschworen, bevor sie den unbescholtenen Bürgern jeden Morgen in die Frühstücksschale gefüllt wurde. Ich habe geklärt, was ein väterlicher Freund ist und wie es ist, wenn man Vater wird. Ich habe David Lynch von A-Z erklärt und Fotos in allen Lebenslangen geschossen. Tiere in Nahaufnahme und Müll in der Stadt. Menschen in Sitzpositionen. Ich habe auch wenige Poeme geschrieben und bitte, dass mich nie einer darauf anspricht. 

Ich habe in Augenschein genommen, was mich im Alltag bewegt. ich habe versucht, Banalitäten Würde zuzuschreiben oder große Diskurse abzukanzeln. Ich habe Robert Bresson mehrere Beiträge gewidmet und einen Essay geschrieben, warum Arjen Robben ein Fußballer war, wie es ihn kein zweites Mal gibt. Als ich zu schreiben begann, wollte ich meiner Zuneigung für R.E.M. irgendwie ein Forum geben. Noch heute bleibt ein Text darüber offen, wie besonders es ist und was es beim Zuschauen auslöst, wenn Michael Stipe tanzt. Wie sowieso so viele Notizen noch nicht ihren Weg zu einem Beitrag gefunden haben. 

Ein Blog ist kein Tagebuch, auch wenn es alle darin vermuten. Das verdeutlichte ich vor vielen Jahren, und das glaube ich auch heute noch. Ein Blog ist viel mehr eine freie Form, Vorstellungen eines Schreibers so sehr zu verdichten, dass sich über viele Texte hinweg so etwas wie ein roter Faden entspinnt. Eine Welt des endlosen Gedankenwanderns. Man kann einem Autor beim Autorwerden und Autorsein zuschauen. Keine für den Moment herausgeblasenen Bonmots oder eher mots mêlés wie auf Twitter, keine Selbstvergewisserungen wie auf Facebook, schon gar keine Kartographisierungen des Ichs wie auf Instagram (die Story muss eben erst gesucht werden, oftmals ist es nicht einmal eine). 

Bloggen war mal eine Kunstform für die digitale Boheme, noch bevor man annehmen konnte, dass diese sich irgendwann aufmachen würde, von einem Leuchtturm zum nächsten zu spazieren, nur um dort erneut mehr Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dieser Blog braucht keine Aufmerksamkeit, aber er verlangt Achtsamkeit. 

Ich wünsche mir, mit jenen, die all das hier lesen, hineinzuhorchen in die Welt. Nicht nur auf das zu achten, was belichtet ist, sondern auch die Schattenzonen zu erkunden. 

Früher war es mal selbstverständlich, heute ist es altmodisch, sich einer Meinung zu enthalten. „Wer mir widerspricht, weckt meine Aufmerksamkeit, nicht meinen Zorn“, sagte Maskottchen Montaigne. Den eigenen Ansichten misstrauen als Antrieb, um zu neuen Ideen zu gelangen, heißt das übersetzt. Am besten gelingt dies mit einem Freund. Auch das wusste Montaigne. Und ein Schreiben, das sich als freundschaftlich versteht - im Prozess des vorsichtigen Hineinblickens in die Seele und des tastenden Vermittelns von Einsichten, die weitergereicht werden wollen - bringt etwas zutage, das der Einsamkeit entgegensteht. 

Und so suche ich auch die nächsten Jahre weiter nach dem, was mich Zweifeln lässt und an manchen Tagen glücklich und an anderen unglücklich macht. Am besten mit Freuden, die zuhören und an meiner Seite stehen. Und manchmal mit einem Stück Käsekuchen neben der Tastatur.

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