Like A Rolling Stone

Irgendwo zwischen Wilhelm Tell, „Uhrwerk Orange“, John Williams, den „Simpsons“ und „Akte X“ glomm der erste Funke. Meine Eltern spielten und hörten klassische Musik. Rossinis Ouvertüre in seiner Oper zum Schiller-Schauspiel wurde mir zum Herzensöffner für die Musik, weil es so rasant und entschlossen war. Es hatte Action, es erinnerte mich an vieles aus Zeichentrickserien, vielleicht wurde es in einem Looney-Tunes-Cartoon eingesetzt. 

Derart begeistert, bekam ich von meinen Eltern den Soundtrack von „Uhrwerk Orange“ zu hören, weil dort nicht nur die „Diebische Elster“ zu hören ist, sondern auch die von Wendy (damals noch Walter) Carlos verfremdete Synthesizer-Version der Wilhelm-Tell-Ouvertüre enthalten ist. Wer glaubt schon, dass man auch für Töne zu jung sein könnte? Von Rossini war es wohl nur ein kleiner Schritt zu John Williams und einer Kompilation mit Stücken, die er mit dem Boston Pops Orchestra aufgeführt hatte. Meine erste CD. Film und Filmmusik, zwei Leidenschaften, die sich ganz und gar gleichzeitig für mich öffneten. Die „Simpsons“ brachten all das zusammen: Danny Elfman, Alf Clausen, America in a comic nutshell, Filmzitate am laufenden Meter.  

Begin The Begin


Ich weiß nicht, ob ich zuerst die „Simpsons“-Parodie auf „Akte X“ sah oder gleich mit Mulder und Scully einstieg, aber die Mystery-Serie weckte mein Interesse für unheimliche Phänomene und Verschwörungstheorien. War jemals jemand auf dem Mond? Hatte Stanley Kubrick die Landung auf dem Erdtrabanten inszeniert? Dokumentationen versuchten sich an den groben Details abzuarbeiten. Die seltsame Lichtsetzung bei den Fotografien – der eigentlich unmögliche Flug durch den Van-Allen-Strahlungsgürte. Dazu „Man On The Moon“ von R.E.M. als begleitender Soundtrack im Hintergrund. 

Was für eine gleichsam sehnsuchtsgetränkte und zartbittere Melodie! Ich hatte schon einiges gehört, damals sicher auch schon Nick Cave und Leonard Cohen, aber als ich derart R.E.M. entdeckte, stand die Band kurz davor ihr 13. Studioalbum zu veröffentlichen und ich legte noch fast täglich Queen auf. Freddie Mercury hatte mir mein Leben ein wenig mitgerettet vor der jugendlichen Tristesse. Klar: „Keep Yourself Alive“. Man glaubt nach einer ersten großen Liebe nicht, dass es mal eine zweite geben würde. 

Ich kann es nicht erklären, aber ich war dann von einem Moment auf den anderen Michael Stipe, Mike Mills, Peter Buck und Bill Berry verfallen. Damals ahnte ich es nur in Ansätzen: Sie schenkten mir buchstäblich ein Leben. „Live And How To Live It“. Ich hörte alles, was ich kriegen konnte, sah jedes Musikvideo, jeden Konzertfilm. Ich verschlang alle Texte über die Band aus Athens, die für Geld zu bekommen waren. Das hatte ich vorher noch nie mit irgendetwas gemacht, das mir musikalisch am Herzen lag. Ich war wohl nicht nur das, was man einen Anhänger nennt. Ich war ein Stück weit besessen. 

Und dann entdeckte ich in einem Kiosk, den ich nur frequentierte, weil es dort den „Film-Dienst“ zu kaufen gab (die einzige Filmzeitschrift, die einen ähnlichen Anspruch hatte wie „Cahiers du Cinéma“ und wirklich jeden angelaufenen Film bewertete, inzwischen aber leider nur noch online existiert), eine Ausgabe des ROLLING STONE. Michael Stipe auf einem blauen Cover. Ein großes Interview. Dazu eine Sonderbeilage, weil es ein Heft zum zehnjährigen Jubiläum war: Die 500 besten Alben aller Zeiten. Dieses kleine Heftchen wurde mir zu so etwas wie einem Reiseführer in die Welt der Rockmusik. 


Ich verstand zunächst nur jedes zweite Wort. Ich kannte nur einen Bruchteil der Musiker und Bands. Warum das einzige Album einer Gruppe aus Cardiff mit nahezu keinen Melodien und noch weniger Aufnahmeaufwand unter die fünfzig besten Platten kam, das wollte sich mir damals kaum erschließen. Doch ich fing einfach an, mir alles zu besorgen, was ich hier vorgestellt bekam. Ich hatte von vielen Größen vorher nur Compilations, jetzt besorgte ich mir „The Velvet Underground & Nico“, „Blonde On Blonde“, „Exile On Main St“, „Blue“, „Tapestry“, „Astral Weeks“. Und ich lernte etwas kennen, das den meisten wohl sehr viel früher vertraut wurde als mir. Das dachte ich damals zumindest. Ich lernte aber auch, dass es keinen richtigen Zeitpunkt geben kann, sich in etwas zu vertiefen, dass es aber auch nur sehr wenige Felder gibt, die sich einem ganz und gar öffnen. 

Der ROLLING STONE wurde zu einem Teil meines Lebens, weil ich durch das, was darin zu lesen war, einen Zugang zur Musik fand, der wohl auch meinen zuvor gelegten Verbindungen zum Film, zur Kunst und zur Literatur glich. 

Fast zehn Jahre später schrieb ich das erste Mal selbst etwas für den ROLLING STONE. Nun, 20 Jahre nachdem ich das erste Mal ein Heft in der Hand hielt, schreibe ich immer noch für ihn. 

Im kommenden Jahr erscheint die deutsche Ausgabe dieses einstigen Hippie-Blatts aus den USA, das mithalf Dylan, die Beatles und die Stones zu Weltkulturerben zu machen, das Annie Leibovitz eine Fotografiekarriere ermöglichte, die zuvor keiner anderen Frau gelungen war (und das Erscheinungsbild des Magazins maßgeblich prägte), das immer politisch engagiert blieb und stets leidenschaftlich für seine Hausgötter einstand, seit drei Jahrzehnten. 

Der ROLLING STONE hat hierzulande eine eigene Geschichte, einen eigenen Stil. Er hat Redakteure, die von Anfang an dabei sind (Arne Willander). Er hat eine Sprache, die leidenschaftlich ist, aber nie die profane Nähe zu jenen sucht, die man heute mal schwärmerisch, mal despektierlich Fans nennt. Er sagt, was wichtig ist in der Popkultur und beschreibt sie, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Er ist nicht akademisch, wie es die SPEX einst war, aber seine Leidenschaft für den Eros der Rockmusik, für die Überbleibsel der Gegenkultur muss man aushalten wollen. Er hält in Nibelungentreue zu alten Recken, selbst wenn sie längst der Langeweile erlegen sind. 

Es gibt Musiker und Bands, die hört man anders, wenn man sie mit den Augen des ROLLING STONE vernimmt – etwa Bruce Springsteen, Rufus Wainwright, Bright Eyes, die Libertines, Travis, die Tindersticks, The Go-Betweens, Wilco, sowieso Bob Dylan, die Beatles und die Rolling Stones. Aber eindrücklich auch R.E.M. Für die war und ist immer die Redakteurin Birgit Fuß zuständig gewesen. R.E.M. sind ihr Leben, sie schreibt über sie, als würde sie eine Freundschaft beschreiben. Sie kann ihnen nicht böse sein, aber es gibt ja auch keinen Grund dafür. Es ist eine Band, die (fast) alles richtig machte, sagt sie. Es ist ein Slogan, den sie einem Buch über R.E.M. beigab. 

Über Musik schreiben, als würde man über einen Freud schreiben


Mich beeindruckte diese Hingabe wohl vor allem, weil sie eben auch meine Hingabe ist. Weil ich Musik und all den anderen Künsten auch immer freundschaftlich verbunden sein wollte. Vielleicht überrascht es so auch nicht, dass ich beim ROLLING STONE auf der Stelle Freunde gefunden habe. Erst viel später fand ich heraus, dass man Musik auch anders hören kann als ich, dass es vielleicht einen Grund gibt, warum es für mich dann irgendwann selbstverständlich wurde, darüber zu schreiben. 

Und so erzählte ich irgendwann auch von R.E.M., von Verschwörungstheorien, von „Akte X“, den „Simpsons“, John Williams, „Uhrwerk Orange“ und sehr vielen anderen. 

Einen Text über Wilhelm Tell werde ich wohl nie schreiben. Aber vielleicht ist die Geschichte mit dem Apfel, wenn man sie einmal nicht so sehr als Symbol für den Kampf gegen Tyrannei versteht, ein ganz gutes Bild für das, wie Musik- oder gar generell Kulturkritik funktioniert. Es ist Mut vonnöten, etwas (be-)schreibend zu attackieren, das zu einem gehört, und sei es nur aus dem Grund, etwas verstehen zu wollen. Geschlossenen Auges (mit allen Wassern gewaschen, die Kulturgeschichte vor Augen, ohne Angst, ein Urteil fällen zu müssen) zielend und den Apfel der Erkenntnis treffen, das ist der Weg.

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