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Prolog
Verzicht und Kontemplation
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„Wenn das Herz denken könnte, würde es stillstehen. Was bleibt jemandem, der wie ich lebendig ist und doch kein Leben zu haben versteht - ebenso wie den wenigen Menschen meiner Art - anders übrig als der Verzicht als Lebensweise und die Kontemplation als Schicksal?“ Fernando Pessoa, „Das Buch der Unruhe“
Man liest nie aus
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Wer versteht mehr von Literatur: Der Mann auf der einsamen Insel mit einem einzigen Buch, das er hundertmal gelesen hat – oder der Bohemien in seiner Stadtwohnung, umgeben von einer luxuriösen Bibliothek, der jeden Tag ein neues Buch verschlingt? Für den Inselmenschen ist sein Buch wie eine Geliebte. Er kennt jede Falte, erspäht Wiederholungen, weiß um Stärken und Schwächen. Er hat es verinnerlicht und vielleicht sogar schon vom Geschriebenen geträumt. Für ihn ist das Buch eine ganze Welt aus Echos, Widersprüchen und vertrauten Rätseln. Für den Ästheten hingegen ist die Literatur wie eine Stadt, durch die er flaniert. Er ist ein Sammler und weiß, wie Themen wandern und Stile sich ändern. Wenn er aus ihnen zitiert, dann schon deswegen, weil auch die Autoren, die er liest, sich aufeinander berufen. Der eine bohrt in die Tiefe (weil er es muss), der andere sucht nach dem Horizont (weil er es will). Im Pendeln zwischen dem einen Satz, den man hunderte Male liest und daher ...
Die Unfähigkeit zu trauern
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Am 14. Oktober verschwinden von einem Moment auf den anderen 170 Millionen Menschen. Exakt zwei Prozent der Menschheit. Keiner weiß, wo sie abgeblieben sind. Niemand weiß eine Antwort darauf, warum es die einen aus der Welt geworfen hat und die anderen nicht. In einigen Städten gibt es nicht eine Person, die vermisst wird, in anderen Orten werden ganze Familien radikal dezimiert. Irgendwann einigen sich die Verbliebenen, die keine plausible Erklärung für das Ereignis finden, von einer plötzlichen Entrückung zu sprechen. Ein Forschungsinstitut wird gegründet, das statistisch erfassen soll, was all die Verschwundenen gemeinsam hatten. Viele wissen nicht, wohin mit ihrer Trauer. Kommen ihre Lieben, ihre Freunde, ihre Nachbarn wieder zurück? Getrauert werden kann nur um Tote, nicht um Verschwundene… Wie mit den Zweifeln umgehen? Doch der Alltag muss für die Zurückgelassenen weitergehen. Arbeit muss getan werden, Kinder müssen erzogen werden, Einkäufe sollten erledigt werden. Irge...
Gefälle
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Krisengewinne, Strukturwandel, Immobilieninflation, Finanzialisierung, überhaupt die Globalisierung – es gibt viele Gründe, warum reiche Menschen in den letzten Jahrzehnten immer wohlhabender geworden sind. Die Armen werden dabei nicht zwingend ärmer, aber sie werden relativ abgehängt. Der Verlust gemeinsamer kultureller Maßstäbe – was heute als Erfolg, Teilhabe oder Bildung gilt – sorgt zusätzlich dafür, dass sich immer mehr Menschen als benachteiligt wahrnehmen und Armut zunehmend als persönliches Schicksal hingenommen wird. Soziologen und Ökonomen halten dem das alte Versprechen der Bildung als Möglichkeit zum sozialen Aufstieg entgegen. Doch der digitale Wandel, verstärkt durch den Fortschritt künstlicher Intelligenz, spaltet auch diese Hoffnung. Während die einen die neuen Werkzeuge nutzen, um Wissen zu mehren und ihren Alltag effizienter zu gestalten (was ökonomische und zeitliche Vorteile mit sich bringt), richten sich andere in einer digitalen Verelendung ein, die ihnen zwar un...
Aufgeschreckt
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Heute morgen, als du noch schliefst, habe ich begonnen, deine Wimpern zu zählen . Noch bevor ich mich versah, öffnetest du deine Augen und erblicktest mich wie ein Kind, das auf dem Jahrmarkt ganz v erzweifelt nach seinen Eltern fahnden muss. Ich erschrak ein wenig, doch eigentlich nur, weil du sofort zurück im Schlaf versankst.