Mensch Mayer

Zu den glücklichsten Entscheidungen meines Lebens gehört, vor den Abitur-Jahren die Schule gewechselt zu haben. Das brachte mir nicht nur eine fröhliche Abschlussnote ein, sondern beschenkte mich nach etwas mehr als einem halben Jahrzehnt des trübseligen Schulalltags mit einem später in dieser Dimension nie wieder erlebten Freispielbereich, neue Menschen kennenzulernen. Das waren nicht nur Kameraden auf den Bänken neben mir.

Einer der mächtigsten Leidfaktoren am Gymnasium, das ich verlassen hatte, war die größtenteils uninspirierte Lehrerschaft. Ekel und Sadisten mögen keine darunter gewesen sein, dafür aber Pedanten und Zyniker. Manche waren auch einfach nur Langweiler. Ich wage zu behaupten: An kaum einer Schule ist das etwas Außergewöhnliches. Zu meiner Überraschung bekam ich allerdings an der neu gewählten Penne einen bunten Strauß an Lehrmeistern, die mir auf Augenhöhe begegneten und mit sehr viel Humor und Rechtschaffenheit einen neuen Weg aufzeigten, wirklich jeden Tag gerne in den Unterricht zu kommen. 

Man kann das Glück nennen, denn es gibt kaum eine Bildungsstudie, die nicht den besonderen Wert des motivierten und beflügelnden Lehrpersonals feststellt (und zugleich damit beklagt, dass solche Dozenten eben nicht auf Bäumen wachsen). Auf die Art der Vermittlung kommt es an; wenn dort an der Tafel keine Autorität steht, dann verdorrt das bereitgestellte Wissen. Womöglich war es aber auch kein Glück, einen verschmitzten Mathematiker, einen auratischen Rhetor und einen sarkastischen Philosophen vorgesetzt zu bekommen, sondern eben eine Art Wiedergutmachung. Als Kind einer Lehrerin war mir der Blick auf den Menschen hinter dem Pauker immer sehr wichtig. 

Ich bekam also, was ich wollte. Und darunter war auch Herr Mayer. Er war nicht mit dem Charisma der Vorgenannten gesegnet. Er war Lehrer der Politischen Weltkunde. Ein kompakter, kantiger Herr irischer Abstammung; vornehm und zurückhaltend, meistens sachlich bis knurrig und überwiegend von sich überzeugt. Er fuhr jeden Tag im grünen Pullunder mit dem Fahrrad zur Schule, noch bevor das in Berlin zur Gewohnheit der Öko-Bürger wurde. Er war hart in der Sache und unnachgiebig, wenn in Diskussionen der rote Faden verloren ging. Sehr gute Noten verteilte er aus Prinzip nicht, aber eine Schülerin, die bereits in jungen Jahren Mutter geworden war, bewahrte er als Anerkennung für ihren nicht immer einfachen Weg vor einer Ausfallbewertung. 

Einmal prüfte er den Angliederungsprozess der Türkei in die EU. Er bestrafte alle Schüler, die für einen Anschluss der Erdogan-Republik an Europa votierten mit Pleitenoten und hielt bei der Auswertung sogar noch ein Plädoyer für die gerechte Sache. Nachdem Herr Mayer genügend meiner Texte begutachtet hatte, empfahl er mir eine Karriere als Journalist, aber betonte zugleich, dass er froh sei, nie mehr irgendeine meiner Langsatzkonstruktionen lesen zu müssen. 

Den wertvollsten Rat gab er uns allen aber, als er leicht belustigt erklärte, dass noch jede Bildungsbürgerhürde genommen werden könne, wenn in Vorbereitung eines Examens oder einer Überprüfung einfach ein mittelklassiges Übersichtsstandardwerk gelesen würde. 

Eine Kurzzusammenfassung, vielleicht sogar an jüngste Pennäler gerichtet. Grundlage ist Grundlage - und alles darüber hinaus sei, so Herr Mayer überzeugt, eine Frage von Fleiß, Disziplin, Arbeitsbereitschaft und vor allem dem Willen, verstehen zu wollen. 

Wer bereits die Überschrift nur überfliegt, der braucht die Fußnoten eigentlich gar nicht erst zu lesen. Sie werden nicht hängen bleiben. So empfiehlt sich Herr Mayers pragmatischer Rat, der jeden „Was ist was?“-Band adelt und die Notwendigkeit von Jugend-Enzyklopädien (warum gibt es eigentlich keine Wikipedia-Version für Heranwachsende?) herausstellt, auch als grundsätzliche Anleitung zum Lesen der Gazetten und intellektuellen Buchbrocken: Das Entziffern von Zeilen lohnt alleine die Mühe und bringt einen Erkenntnisgewinn, der Neugier mit Akribie vermengt. 

Herr Mayer, der als Wink fürs gelungene Leben den (künftigen) Ehegatten noch auf den Weg gab, so oft wie möglich in Blumen zu investieren, bevor irgendwann einmal ein Richter die unverschämte Rechnung für die eigene Torheit präsentiert, sprach oft davon, dass er sein nüchternes Denkvermögen und seine profunde Gelehrsamkeit nicht einem grundständigen Studium verdankt. Stattdessen habe er seit dem ersten Tag an der Alma Mater den SPIEGEL, die ZEIT und später, mit Ankunft in Berlin den Tagesspiegel abonniert und sei dabei auch geblieben. Auch seine Kinder müssten damit leben, dass der Frühstückstisch immer auch ein Kiosk ist und das Nutella-Brötchen zur Seite gelegt gehört, wenn an einem Montagmorgen das Wahldrama des Vorabends durchdekliniert wird. 

Geeignete Lehrer suchen das Gespräch. Sie empfehlen sich als Moderator eines geistigen Entwicklungsprozess ihrer Schützlinge. Man erkennt sie daran, dass sie auch in der Wohnstube feinsinnige Erbsenzähler bleiben. Und vor allem haben sie immer einen Fingerzeig im richtigen Moment parat, der oft viel zu simpel klingt, sich über die Jahre aber als goldrichtig erweist.

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