Wer bringt schon noch die Zeit auf?

Für einen Tag hat sich dieser erschreckend beständige, warme Sommer eine Pause gegönnt. Der morgendliche Regenguss hat sicher auch dem Zeitungsboten nur wenig Freude bereitet. Die ZEIT liegt wohl auch deshalb völlig durchnässt und beklommen neben dem Briefkasten. Sie passt nicht mehr in die Box hinein, weil sie meist etwas zu dick ist. Doch dieses Mal wäre es ohne Probleme möglich gewesen, denn der ZEIT fehlen diesmal aus einem mit nicht ganz nachvollziehbaren Grund mehrere Ressorts. Mir blieben der Politik-Teil, das Dossier und auch der Wirtschaftsbereich.

Auf der Titelseite prangt die Aufforderung: „Sei mutig!“. In der Titelgeschichte, die sich auf mehrere Artikel verteilt, stellt die ZEIT die Frage, was in heutigen Zeiten noch Courage ist. Damit meinen die Blattmacher natürlich: Warum sind die Menschen heute nur so mutlos? Noch eigentlicher fragen sie: Warum gibt es immer weniger Zivilcourage? Vielleicht ist auch implizit damit gemeint, warum das Mitleid mit in Not geratenen, geflüchteten Menschen scheinbar von Tag zu Tag sinkt.

Passend dazu gibt es einen Leitartikel, der sich als Pro-und-Kontra-Stück gebärdet. Die ZEIT hat sich in den letzten Jahrzehnten den Ruf erworben, die ausgewogensten Meinungsgeschichten auf dem deutschen Medienmarkt zu machen. Denn die ZEIT ist im Kern schon seit ihrer Gründung eine linksliberale Zeitung, wobei im Wirtschaftsteil das Liberale überwiegt und im Feuilleton das Linke. Das hat sich nie geändert, auch wenn die ZEIT in den letzten Jahren so erfolgreich geworden ist wie noch nie in ihrer Geschichte. Wohlgemerkt: gegen den Trend der sinkenden Auflagen und Verluste im sonstigen Zeitungsgeschäft.

Dafür hat die ZEIT aber auch etwas getan. Sie hat das leicht Onkelige und Wohlmeinende der Vergangenheit abgelegt. Sie gibt sich dafür als modernes Meinungsmagazin, das im Orkan der immer exzessiver werdenden Diskussionen Haltung bewahrt. Manchmal, vor allem im Magazin, wird aber auch sichtbar, wie häufig es den Machern der ZEIT um Gefühliges, um Lifestyle, um das Ankoppeln an populäre Diskurse geht. Freilich werden nur jene Diskurse belichtet, die für die gebildeten, wohlhabenden Leser anschlussfähig sind.

Das hat nicht nur die ZEIT erkannt: Gesellschaftliche Debatten verlaufen nicht mehr linear, sondern bruchstückhaft. Sie holen den einen Gesellschaftskreis ab, den anderen nicht. 

Es ist in der Geistesrepublik ein wenig wie auf den Tellern der Deutschen. Man is(s)t vegan, vegetarisch, Teilzeitfleischesser, bei einem Lebensmittel umweltbewusst, bei dem anderen vom schlechten Gewissen geleitet.

In der Flüchtlingsdebatte zeigte die ZEIT stets ein ausgewogenes Profil. Sie erklärte Hintergründe, kommentierte vorsichtig und in alle Richtungen. In der aktuellen Ausgabe findet sich ein Artikel, der offen fragt, ob es legitim ist, dass private Helfer Flüchtlinge und Migranten aus Seenot retten. Auch hier gibt es ein Pro-und-Kontra-Stück. Dazu die Überschrift: „Oder soll man es lassen?“

Nur Stunden nachdem die neue ZEIT am Kiosk lag, haben sich im Netz, vornehmlich auf Twitter, bereits Hunderte Menschen über diesen Text aufgeregt. Manche sprechen der Kontra-Autorin, Mariam Lau, ab, dass ihre Meinung ausgewogen und moralisch vertretbar ist. Die meisten beschweren sich über die Titelzeile, die angeblich die Verrohung der Flüchtlingsdebatte spiegelt und aus diesem Grund menschlich kalt ist. Man kann sich fragen, ob die Überschrift bereits suggeriert, dass die Möglichkeit besteht, sofort auf Seenothilfe im Mittelmeer zu verzichten. Aber hätte der Shitstorm eine andere Richtung genommen, wenn dort gestanden hätte: „Was wäre, wenn (private) Helfer auf hoher See nicht mehr Leben retten würden?“

Die Welle an hämischen, manchmal geradezu vernichtenden Kommentaren will überhaupt nicht abebben. Heribert Prantl urteilt in der Süddeutschen: Menschenwürde steht niemals im Konjunktiv. Ein Satire-Autor hat auf Twitter sogar geschrieben, dass er ZEIT-Autoren gerne auf offener Straße erschossen sähe. Natürlich zynisch gemeint. Aber man könnte gleich wieder über die Grenzen der Satire sprechen. Deckel drüber: Auf Twitter kann es keine Satire geben, denn Twitter ist kein Medium, das Satire zuträglich wäre. Satire verkommt hier automatisch zur Fake News. Natürlich muss sich Satire nicht als solche kennzeichnen lassen, um zu funktionieren oder gar gerechtfertigt zu sein. Aber sie benötigt - wie übrigens alle Kunst! - einen Rahmen, der sie sichtbar macht.

Erörterte  die ZEIT nicht zuletzt bis zum Erbrechen, dass die Rhetorik in öffentlichen Diskussionen - auch angetrieben von den Möglichkeiten zur Meinungsäußerung in sozialen Netzwerken im Internet - immer barbarischer würde? 

Über die Notwendigkeit und Legitimität des durchaus komplexen ZEIT-Streits in der Seenotrettungsfrage dürfte in der Sache gar nicht diskutiert werden. Debattiert wird eigentlich auch nur über die drastische Zeile. Humanitäre Fragen sind, das macht es eben so kompliziert, immer geprägt von moralischer Ambivalenz. Der Aufreger hier ist ja deswegen auch: Wie kann man etwas in Frage stellen, das nicht in Frage gestellt werden kann? Also Menschen in Not zu retten.

Dass es darum in dem Pro-und-Kontra-Artikel überhaupt nicht geht (also aufzuhören, Menschen aus Not zu retten), macht das Problem nur umso offensichtlicher. Konsequent diskutiert wird die Frage, ob es vielmehr eine Alternative zu privaten Helfern geben muss, um das Problem der in Gefahr geratenen Flüchtenden auf den Meeren in den Griff zu bekommen. Denn die private Seenotrettung - so argumentiert Mariam Lau unter anderem - unterstützt auf perfide Art und Weise die Fortführung solcher lebensgefährlicher Überfahrten, die nun einmal ein dunkles und zugleich sehr einträgliches Geschäft für Schlepper sind.

Der hellsichtige und natürlich umstrittene französische Philosoph Jean Baudrillard hat einmal im Zusammenhang mit dem „absoluten Ereignis“ des 11. September 2001 davon gesprochen, dass die Globalisierung durch ihre schrankenlose Ausdehnung die Bedingungen für ihre eigene Zerstörung selbst produziere. Dieser Gedanke passt auch in Bezug auf die Flüchtlingsfrage. Auf Ebene des moralischen Diskurses steht für ihn die seiner Meinung nach irrige Vorstellung, dass es im Grunde durch äußere Ereignisse und von Staaten oder Organisationen verursacht keine Todesopfer geben dürfe. Dieser Eindruck grenze aber an Schizophrenie, weil die Bedingungen zur Herstellung dieses moralischen Anspruches es gerade nötig machen, dass Menschen in anderen Regionen, in denen sich Wohlstand und Bedingungen für ein sicheres Leben aufgrund der Einflusssphäre der postkolonialen Wirtschaftsmächte nicht ausbreiten können, leiden müssen. Baudrillard war sich sicher, dass der Westen an dieser Schizophrenie zugrunde gehen könnte.

Die Flüchtlingsfrage ist eine der ältesten in der Geschichte der Menschheit und schon immer Anlass für gewaltige Unruhen gewesen. Sie zu unterschätzen wäre politischer Wahnsinn.

Natürlich ist die Not von Menschen stets eine humanitäre Angelegenheit und damit eine Herausforderung für jede Zivilgesellschaft. Aber es ist eben auch eine politische Angelegenheit. Seriöse Wissenschaftler weisen in den verschiedensten Disziplinen darauf hin, dass es in den kommenden Jahrzehnten aufgrund der weltweiten ökonomischen Entwicklung und der längst virulenten Klimaerwärmung zu noch weit größeren Fluchtbewegungen und Völkerwanderungen kommen wird.

Einfache Antworten kann es hier also nicht geben, auch weil die humanitäre Dimension dieses Dramas verdeckt, dass um politische Handlungen zur Öffnung und Schließung von Grenzen vor allem auch in supranationalen Gebilden, wie es die Europäische Union nun einmal ist, zwangsläufig gerungen werden muss. Ohne intellektuelle Auseinandersetzung ist eine Lösung nicht möglich. Und die wird in solchen Debatten um Sinn und Unsinn von Titelzeilen natürlich ausgeklammert. Es zählt nur noch das Gefühl, die innere (und ironischerweise überhaupt nicht die äußere) Betroffenheit. Interessanterweise ist das ja auch ein Vorwurf, der rechtspopulistischen Meinungsschwingern und vor allem auch ihren Anhängern gemacht wird. Handelt es sich hier vielleicht längst um ein gesamtgesellschaftliches Problem? Sind wir alle infantil geworden und wollen nur noch unsere (auch moralischen) Gefühle ausleben oder bestätigt bekommen?

Eine junge Journalistin, die sich häufig mit feministischen Themen beschäftigt und wahrscheinlich den Begriff „Journalistin“ für sich ablehnen würde, hat als eine der ersten auf die ZEIT-Geschichte reagiert. Sie hat die Seite einem Artikel der BILD gegenüber gestellt und dokumentiert damit für ihre Follower auf Twitter, dass es zwar schon schlimm sei, dass eine Boulevardzeitung antihumanitäre Hetze betreibe, es aber noch viel verheerender sei, wenn eine vermeintlich liberale Zeitung sich einer ähnlichen Ausdrucksweise bediene.

Die Autorin beschreibt es zwar nicht, aber es kann aus ihren Worten herausgelesen werden: Nun ist auch die ZEIT umgekippt. Nun könnten also auch die linksliberalen Denker auf einen rechtspopulistischen Zug aufspringen. Der Diskurs ist schonungsloser, gewalttätiger geworden.

Die „Influencerin“ postet auf Twitter jeden Tag zahllose Nachrichten, noch mehr teilt sie und noch viel mehr kommentiert sie auch. Irgendwann in den letzten Tagen stellte sie ein Bild von einer organge-gelben, gestreiften Katze online, die sich schlafend zusammengekrümmt hat. Dazu schrieb sie nichts, sondern ergänzte das Bild mit einem Emoji von einem Shrimp. Spontan muss ich lachen, fühle mich aber auch beunruhigt davon, wie elegant es auch dieser aufgeklärten, couragierten Autorin gelingt, von den harten zu den weichgespülten Themen hin und her zu springen, ohne dass das eine an dem anderen kleben bleibt.

Ich denke mir, weil ich auf Twitter unterwegs bin: 'Heute schafft sich eine Frau statt Mann eben einen Kater an'. 

Wenn ich Twitter-Posts lese, habe ich andauernd solche Gedanken, weil andere solche Sätze rund um die Uhr bei Twitter einstellen. Alles muss hier Meinung sein, am besten im Tonfall einer sehr lässig daherkommenden Ironie oder eben mit der zorngegerbten Sprachkeule. Für einen Moment überlege ich mir, das Sprachspiel zu posten, weil ja die Dominanz von Katzen gerade auch im Internet und als Kuschelersatz in Single-Haushalten eine merkwürdige Renaissance erlebt. Feministinnen und Katzen, dazu könnte man auch eine sehr weit greifende wissenschaftliche Arbeit verfassen.

Doch ich schaudere vor mir selbst, wie ich von der durchnässten, zerrupften, des Feuilletons und der Leserbriefe beraubten ZEIT und einer Diskussion um Flüchtlinge zu eingerollten Katzen und nicht ganz so unglücklichen, alleinstehenden Frauen kommen konnte.


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