Liebeserklärung an „American Beauty“

Wer hätte je gedacht, dass es möglich sein könnte, wegen einer Plastiktüte Tränen zu vergießen?


„American Beauty“ ist ein Film wie kein anderer. Er schüttet mit ungeheurem Feingefühl (und vielen treffenden Sprüchen) eine Riesenportion Melancholie über seine Figuren aus und beobachtet genüsslich, wie sie sich, mehr schlecht als recht, freischwimmen.

Natürlich ist da Lester Burnham, diese vom Leben kleingestampfte Wiederkehr von Nabokovs Humbert Humbert, der sich vom amerikanischen Traum, gelinde gesagt, verarscht fühlt und nun wie ein pubertierender Teenager gegen den eigenen Untergang ankämpft. Ein armes Würstchen („Sehen sie mich an: Ich hole mir unter der Dusche einen runter. Dies ist der Höhepunkt meines Tages. Von hier an geht's nur noch bergab“) – aber trotzdem keiner dieser Jammerlappen, wie sie in all den Hipster-Filmen und Midlife-Crisis-Erkundungen dahinvegetieren.

Regisseur Sam Mendes und Drehbuchautor Alan Ball gelingt es vorzüglich, den Zuschauer mit ins Boot zu holen und ihn mitfiebern zu lassen, wie Mr. Burnout seiner Krise zu entrinnen versucht und dabei, ganz ohne es zu bemerken, immer weiter hineingerät. Dass ihm – und zugleich uns stummen Zeugen dieser anrührend ausgewogenen Mischung aus Drama und Komödie – dabei trotz allem ein Licht aufgeht, und er das Leben in seiner ganzen Fragilität und Schönheit erkennen darf, ist ein kleines Wunder, das sich das amerikanische Kino eigentlich viel zu selten erlaubt und kleinlaut an die anderen hohen Künste abschiebt.

Die kraftvollen, gemarterten Figuren, die mit der Schärfe eines bergmannschen Rasiermessers auseinandergenommene Verlogenheit der Kleinstadtidylle, diese zum Witz aufgebrühten Szenen einer Ehe – all das ist eigentlich weniger Kino als vielmehr Bühnenspiel. 

Aber es ist auch große Literatur – an Tschechow, Becket und „Lolita“ geschult. Will man ein Beispiel, wie man die Brütereien der Hochkultur mit den Hitzigkeiten der Popkultur versöhnen kann – bitteschön, „American Beauty“ ist es. Das Publikum bekommt zur Lehrstunde in Sachen antikes Drama mit astreiner Katastrophe und Trauerchor („Because“, Beatles/Elliott Smith) ja trotzdem eine Menge Erdnussbutter, Teenage-Angst und Sozialsatire gereicht.

Sowieso besteht die Kunstfertigkeit des Films darin, dass hier allerhand Nöte bebildert werden, die Protagonisten ihre klammen Herzen öffnen, ohne dass es je peinlich würde. Der Schuss Surrealismus, den Mendes seiner angewinkelten éducation sentimentale verpasst, bleibt für alle Ewigkeit. Nicht nur, weil Millionen von Frauen für ein paar Jahre für ihren Liebsten wie Mena Suvari nackt in Rosen badeten, um ihn vielleicht zum Hochzeitstag mit einem frechen Foto zu überraschen – sondern weil surrealistische Bilder auf der Leinwand eben selten geworden sind. Bunuel und Lynch sind uns ja schon davongeflogen und Lanthimos kennt zumeist kein Erbarmen mit seinen Figuren.

Die von Paula Abdul ergreifend choreographierte Cheerleader-Szene demaskiert all die Männer-Sehnsüchte im mittleren Alter, und gibt sie eben nicht der Lächerlichkeit preis. Letztlich gewinnt eine zwielichtige Romantik, ein banges Hoffen auf eine letztlich unverdiente Spätblüte, die Oberhand. Und der Film gönnt der frustrierten, natürlich das ganze Dramolett der Depression durchperformenden Familienmutter Carolyn, hochkomisch und mit dem richtigen Schuss Verzweiflung gespielt von Annette Benning, ihre Affäre mit dem Immobilien-Hai der Stadt („Fick mich, euer Majestät!“).

Die schönste Pointe des Films ist aber, dass der einzige Hoffnungsträger ein kleiner mieser Dealer ist, der heimlich seine Angebetete mit der Kamera sondiert und ihr nächtens Opfer darbietet, als könne er seine Liebe gar nicht anders bezeugen. 

Dieser Ricky (herrlich autistisch dargestellt von Wes Bentley; allein sein erschrockener Blick, als er bemerkt, dass er mit seinen schrägen Aktionen tatsächlich das Herz von Jane Burnham erobern konnte, ist das Eintrittsgeld für den Kinobesuch wert) wäre in anderen, kleingeistigen Filmen ein Loser. Hier ist er der große Weltendeuter, der Schwärmer, der sich seiner eigenen Trauer ohne Grund mehr als jeder andere bewusst ist. Die Plastiktüte! „An diesem Tag ist mir klar geworden, dass hinter allem Leben steckt. Und diese unglaublich gütige Kraft, die mich wissen lassen wollte, dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben.“

Man kann von dieser Erkenntnis nicht ungerührt bleiben, denn sie wächst eben sprichwörtlich wie eine amerikanische Rose aus dem Misthaufen. Filigran ist selbst das Spiel von Mena Suvari, die nach ihrem, nun ja: süßen, Auftritt in der Teenie-Klamotte „American Pie“ eine so mustergültige und doch nie sirenenhafte Verführerin gibt, die letztlich mit all dem noch nicht in Berührung gekommen ist, wofür sie ganz (un-)schuldig wirbt. Ein bittersüßer Clou der auch hier grässlichen Adoleszenz, die einst selbst Dr. Sommer zitierte, um jungen Mädchen klar zu machen, dass der Schein trügen kann.

All diese überlebensgroßen Schicksalsprüfungen, die sich trotzdem nie unangenehm aufplustern oder gar je aufdringlich falsches Mitleid heischen, werden wunderbar treffend von den minimalistischen Klängen Thomas Newmans' eingefangen. Das zartfühlend dahinperlende Piano, das die im Wind tanzende Plastiktüte untermalt, ist längst ein leiser Gassenhauer der modernen Filmmusik.

Daneben funkelt auch der Soundtrack: Nur wenige Sekunden preschen die Eels mit „Cancer For The Cure“ hervor („Beautiful Freak“, das Debüt der Band, war die erste Veröffentlichung auf Dreamworks Records, das von David Geffen, Steven Spielberg und Jeffrey Katzenberg wie eben auch die „American Beauty“-Produktionsfirma gegründet worden war. Der Song stammte allerdings vom todtraurigen Nachfolger „Electro-Shock Blues“) und so wahnsinnig prominent darf dann noch einmal „Allright Now“, der etwas angestaubte Riesen-Hit von Free, ertönen. Würden wir heute noch irgendetwas von Gomez hören, wenn nicht „We haven’t Turned Around“ hier aufgeschienen wäre? 

Sam Mendes hat in seiner erstaunlichen Karriere noch keinen schlechten Film gemacht (auch wenn „Zeiten des Aufruhrs“, diese so nötige wie umständliche Richard-Yates-Verfilmung, wohl seine Ehe mit Kate Winslet zerstörte). Er durfte als Bond-Regisseur reüssieren und den ersten Weltkrieg bebildern. Bald widmet er jedem der Beatles ein eigenes Porträt. 

Aber „American Beauty“, der ohne Produzent Steven Spielberg nie entstanden wäre, bleibt sein großes Meisterwerk: eine sensible, hochironische, humanistische Komödie mit Schreckmomenten, die ohne großes Aufsehen zu machen die womöglich klügste Zeitdiagnose lieferte, welche das amerikanische Kino im letzten Jahrzehnt des alten Jahrtausends zu schöpfen in der Lage war. 

Dass es dafür einen englischen Theatermacher brauchte, ist eine jener Storys, mit der sich Hollywood nun einmal immer wieder vor dem eigenen Untergang durch allzu seichte Unterhaltung hinwegrettet.

ROLLING STONE online (zuerst erschienen am 31. Juli 2015)

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