Langsam lodernde Manie

Heiß wird es werden, spannend und obendrein ein wahres Event. Die Fußball-WM steht vor der Tür, noch wenige Tage und dann geht es los. Ein verschlafenes, kleines Land, das sich in der gefühlten Depression schwer identifizieren kann mit grinsend-tanzenden Brasilianern, die Samba tanzen, wenn bezahnspangte Weltklassespieler Tore aus unmöglichen Winkeln schießen, soll nun endlich aufwachen, sich freuen, jubeln, auf der Straße tanzen: Hallo – es ist WM! Statt brandender Euphorie erleben die Germanen aber nur keimfreie Erregung. Hauptsache die Stadien sind sicher, die Bundeswehr hilft Terroranschläge zu verhindern und kleine Provinzpolitiker können im Stadion fröhlich klüngeln. Was soll’s. Anscheinend können sich die Deutschen nicht anders freuen, sie müssen mäkeln, meckern, maulen über alles und jeden. Vor allem über 11 Kicker, die von einem blonden Schwabenhünnen zum Weltmeister optimistisiert werden. Einfach zufrieden sein, wenn Costa Rica 2-0 nach hause geschickt wird. Aber: Es wird gleich bemängelt werden, dass es kein 5-0 war; ein Tiefpunkt der Tiefpunkte gleich zu Beginn? Wo ist dann Rudi und wo Waldi? Klinsi, der Dauerfröhliche, wird lächeln und sich fragen, was die alle wollen – schließlich hat er auf seinem Laptop doch schon längst ausgerechnet, wer beim nächsten Spiel dabei sein wird. Klose: 5 Schüsse aufs Tor, 5 daneben. Ist halt nicht dabei beim nächsten Spiel. Mertesacker, nur 22,456 Prozent Zweikämpfe gewonnen? Wir haben ja noch genug hervorragende Verteidiger! Es herrscht Stirnrunzeln über Klinsmanns neoliberale verquere logisch-mathematische Herangehensweise (der Kader Juni/Juli soll Weltmeister werden – der Kader Januar/Februar würde vielleicht nur Dritter). Das quasireligiöse, ersatzphallische Gekicke soll schließlich der deutschen Kollektivseele Auftrieb geben. Nicht mehr nur gefühlter Aufschwung. Nach der WM sind ein Glück keine wichtigen Landtagswahlen. Sollte Deutschland im Achtelfinale scheitern, wären SPD und Union ja in einem Boot mitverantwortlich. Andersherum wird aber auch ein Schuh draus: Wird Deutschland Weltmeister, dann explodiert die Zustimmung für Politik und Politiker (wenn sie so schön das Spiel analysieren). Verquere Welt. Demnach gäbe es, wenn Trinidad Weltmeister würde sofort einen Putsch. Wir sollten uns einfach überraschen lassen, verdammt noch mal. Und genießen: 4 Wochen sehen wir 64 Spiele (hey, das sind durchschnittlich 16 Spiele pro Woche!), verrückte, halbnackte brasilianische Spielerfrauen, besoffene Fanimitationen von You’ll never walk alone, Stadionflitzer mit obskur politischen Botschaften wie „Klick meinen Blog an“ oder auch Elfmeterduelle – und Deutschland als Sieger. Natürlich kann es auch anders kommen – und das sollte zum Nachdenken anregen –, wenn es einen Terroranschlag geben sollte, dann ist dieses Land in einem anderen Ausnahmezustand. Dann wird man sich gegenseitig zerreißen und fragen, warum der wichtigste deutsche Geheimdienst BND sich monatelang mit so genannten Fehlern im Irakkrieg und Spitzelaffären herumschlagen musste, anstatt up to date zu bleiben. Hoffen wir, dass dies gerade nicht passiert und freuen uns, wenn es ein ausgelassenes Turnier wird, mit vielen schönen, spannenden Spielen, wo es nicht darum geht, dass Deutschland verbissen Weltmeister wird, sondern wo es um Spielspaß, Kampfeslust und gesellschaftliche Zusammengehörigkeit geht, fernab eines fahrigen Patriotismus zur Linderung der Nationenseele. Allen Pessimismus ablegen, auch wenn es nur für vier Wochen ist – denn seit 32 Jahren hat Deutschland kein ähnliches Großereignis erleben dürfen (und wird es auch die nächsten 30 Jahre nicht erleben) – und Jubeln, ob über deutsche Tore oder über holländische. Lasset die Spiele beginnen…

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