Wer Angst vor Spoilern hat, ist nie wirklich erwachsen geworden

Seit Jahren tobt im Internet die kollektiv geteilte Wut über die so genannten Spoiler, bei denen dreist verraten wird, was in einer Serienepisode oder in einem Blockbuster-Kinofilm passiert. Journalisten überlegen sich inzwischen zweimal, was sie über einen neuen Film erzählen, um ja niemanden zu verschrecken. Andere Medien spielen gerade mit der Neugier vieler Fans und lancieren geschickt – vor allem in den sozialen Netzwerken – Artikel, die so viel wie möglich verraten, oder wenigstens so tun. 



Es ist aber lächerlich, wenn sich erwachsene Menschen beleidigt fühlen wie ein Kind, dem man den Lutscher wegnimmt, nur weil sie schon vorzeitig ein Handlungsdetail erfahren. Der Wert eines Kunstwerks oder Unterhaltungsstücks bemisst sich nun einmal nicht nur an den Plotpoints. Natürlich ist es ärgerlich, wenn das Filmvergnügen – das ja zu einem großen Teil seinen Reiz aus überraschenden Wendungen oder erschreckenden Enden zieht – durch Spoiler geschmälert wird. Doch führt der Hype um die Geheimnisse einer Handlung nicht auch zu der perfiden Erwartungshaltung, dass so gut wie jeder Stoff eine Vielzahl solcher Erzähleffekte bereithalten muss, um von einem großen Publikum akzeptiert zu werden? 

Serien wie „Game Of Thrones“, „Breaking Bad“ und „The Walking Dead“, die von Millionen von Zuschauern weltweit gesehen werden, haben den Aufschrei um vermeintliche Spoiler nur noch vergrößert. 

Das liegt auch daran, dass diese multimedialen „Kulturereignisse“, über die alle sprechen, fast nur noch über das Internet (oft über illegale Streamingportale) oder auf DVD und Blu-ray wahrgenommen werden. Wie soll man also darüber sprechen, wenn immer davon ausgegangen werden muss, dass dieser oder jener noch nicht weitergeschaut hat? 

Gerade die Fantasy-Reihe „Game Of Thrones“ lebt ja davon, dass von Staffel zu Staffel mehrere Hauptfiguren das Zeitliche segnen, ohne dass man dies durch Anhaltspunkte in der Handlung erahnen könnte. Das Fernsehen hatte eine lange Zeit Erfolg mit erzählerischer und inszenatorischer Gleichförmigkeit. Auch heute noch sind viele Formate, trotz komplex gehaltener Figurenentwicklung und Erzählhaltung, schlicht vorhersehbar. Und das mögen die Menschen daran. So erklärt sich schließlich der niemals verenden wollende Erfolg von Sitcoms und Soaps. 

Aber: Die Relevanz vieler teuer produzierter Serien, und auch die Bedeutung von entgegengefieberten Filmen wie den Comicfilm-Franchises oder den „Star Wars“-Fortsetzungen, erschließt sich auch beim wiederholten Sehen, wenn alles bereits bekannt ist. Und so mag es zwar ärgerlich sein, wenn die Spannung durch ein falsches Wort im Vorhinein „abgetötet“ wird. Doch das Quengeln über derlei Spoiler ist infantil und spielt letztlich nur den Produzenten derartiger globaler Markenprodukte in die Hand, die es sich nicht nehmen lassen, mit der Erwartungshaltung der Kunden (auch mit einer inflationären Verbreitung von oftmals schlecht inszenierten Teasern und Trailern) geschickt zu spielen. 

Die Angst vor den Spoilern versinnbildlicht auch die Dominanz von stringenter Narration in Film und Fernsehen, die in den letzten Jahren deutlich Überhand genommen hat. 

Längst steht der Erzählprozess, ganz nach postmodernem Masterplan, selbst im Mittelpunkt. Experimentelle Bilder oder Geschichten, die eher von Stimmungen und Beobachtungen leben, werden immer weiter zurückgefahren. Sie wirken nicht spannend, nicht überraschend, nicht erfolgversprechend. 

Heute ist es undenkbar, dass ein Film wie „Das Schweigen“ von Ingmar Bergman, der in der BRD 1964 mehr als 16 Millionen Menschen in die Lichtspielhäuser lockte, ähnlichen Erfolg hätte. Hier zählte das Skandalpotential und das Spiel mit moralischen Grenzen. Bei der Erregung um unnötige Spoiler beziehen sich die wenigsten Menschen auf moralische Faktoren. Es geht immer nur um die Story. Spoiler hätten im Fall von „Das Schweigen“ keinen Sinn ergeben. 

So fällt auch auf, dass das Stöhnen über Spoiler sich in der Regel nur auf die populären Serien, die fast alle gucken, und Filme, die wochenlang zuvor schon zu globalen Events hochgejazzt wurden, bezieht. Kaum einer regt sich auf, wenn etwa verraten wird, was für ein Wesen sich hinter Scarlett Johansson in „Under The Skin“ verbirgt. Ganz einfach weil es trotz der erschreckenden Pointe die Stärke des Films nicht bestimmt. Selbst das noch heute bejubelte Überraschungsende von „The Sixth Sense“ ist den meisten Menschen bekannt – selbst wenn sie den Film nicht gesehen haben. 

Außerdem gibt es unterhaltsame Spannungsserien wie „Akte X“ oder „Lost“, deren Plot so verworren ist, dass es wenig Sinn ergeben würde, einzelne Details zu verraten. Auch wenn etwas verraten würde: Hier wären Spoiler schlichtweg ohnmächtig gegenüber der Mehrdeutigkeit der Handlung. 

Kann es also sein, dass die lautstark geäußerte Angst vor Spoilern nichts anderes ist als eine versteckte Forderung der meisten Zuschauer, möglichst mit spannenden Geschichten unterhalten zu werden? 

Dieses Recht gibt es aber nicht. Romane, Filme, Serien können unterhalten, sogar überraschen. Aber ihre Qualität wird in erster Linie nicht davon bestimmt. Sonst wären Filme wie „2001 – Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick, Romane wie „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace oder Serien wie „The Wire“ von David Simon niemals zu Klassikern ihres Mediums geworden. 

Sie sind bedeutsam, weil sie komplex sind. Und weil bei ihnen Spoiler zwecklos sind.

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