Der musikfreie Tag

Alles still. Kein Radio. Keine Instrumente. Keine Pfiffe. Kein Summen. Kein Fingerschnippen. Keine Musik im Ohr!

Für einen Tag soll alles schweigen. Damit wir uns besinnen auf die Kraft und die Magie der Musik. Denn diese scheint uns immer mehr verloren zu gehen. Wir vertreiben sie mit dem maßlosen Einsatz von Musik in jeder Lebens- und Gemütslage. Kein Medium, das Musik einsetzen kann, verzichtet mehr darauf, sie schamlos zu missbrauchen. Gefühlsmanagement nennt man so etwas: Sollten die Bilder nicht passen – die Musik macht sie passend. Wer sich traurig fühlt, hört traurige Musik. Oder er hört fröhliche Musik, damit er oder sie alsbald wieder fröhlich wird. Das ist eigentlich nicht problematisch. Das Problem aber beginnt dort, wo man sich daran gewöhnt, die Musik einzusetzen, als wäre sie kunst-, macht- und damit wertlos.

Gedenktage gibt es für alles und jeden.  Es gibt den Tag des deutschen Bieres, den Tag des Friedhofs, den Tag des Baumes, den Tag des Butterbrotes – auch den Tag gegen Lärm. Warum nur all diese Gedenktage? Vielleicht weil uns Stück für Stück etwas zu entgleiten droht, das wir bewahren wollen. Wie kleine Kinder, die begreifen, dass ihnen ein zerkuschelter Teddybär weggenommen wird, klammern wir uns an eine diffuse Form der Nostalgie. Ja, diese Gedenkmomente sind Irrsinn und nutzlos, denn ihre Wirkung ist in den besten Fällen begrenzt und in den schlechtesten Fällen sind sie nur ein Werbetrick. Aber tatsächlich lauert hinter diesen Symbolen des Erinnerungsmarketings etwas, das nötig ist: bewusst zu konsumieren.

Bill Drummond, der legendäre Gründer von KLF, ruft deshalb alljährlich am 21. November zum No-Music-Day auf. Sicher: Wenige werden ihm folgen. Sie werden den Sinn dahinter nicht verstehen wollen oder sie werden, selbst wenn sie darüber gelesen haben, vergessen, dass dieser Tag ein Tag der Ruhe sein soll. Es muss nicht dieser Tag sein. Es muss überhaupt kein bestimmter Tag sein. Aber solche Aktionen lehren, dass wir nur dann die Bedeutung von Kunst in unser Leben wertschätzen und ergreifen können, wenn wir sie auch als solche betrachten. Als einen Stoff, den Menschen mit ihrem Verstand, vielleicht mit ihrem Herzen, vor allem aber mit ihren eigenen Händen erarbeitet haben. Bücher verschlingen, Fernsehen glotzen, Kino und Serien im Binge-Marathon, Spotify-Playlists in der Dauerschleife, Music-Lounges, Ausstellungsevents – all diese Formen des Konsums erschlagen die Kunst.

Wer eine Platte einlegt, die er seit Jahren nicht mehr gehört hat, die aber für ihn oder für sie vor nicht allzu langer Zeit immense Bedeutung besessen hat, der wird jene Wehmut spüren, die so unendlich kostbar ist, dass man sie gerade nicht jeden Tag wieder hervorzaubern kann. Und auch aus vielen Gründen nicht sollte. Deshalb dürfen DJs einen Tag arbeitslos bleiben, können Plattenspieler ruhig für 24 Stunden verstauben und darum sollten Orte, an denen Musik wahllos ins öffentliche Leben gespült wird, wenigstens für einige kostbare, stille Momente gemieden werden.

Vielleicht wird Musik eines Tages wieder die Welt verändern, wenn wir sie erneut bewusster hören. Das hat sie schon oft getan. In dieser Zeit ist sie, trotz all der wundersamen Momente, die sie uns schenkt, aber viel zu häufig kraft- und wirkungslos. Manche kunstvollen Großtaten vernehmen nur noch wenige Liebhaber. Andere Stücke werden so oft gespielt, dass man sie nicht mehr hören kann.
Und wenn man ehrlich ist: Daran haben weniger die vielen talentierten Musiker Schuld als vielmehr die unersättlichen Hörer. 

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