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Prolog

Manche empfangen, andere nicht

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Wenn ich aus dem Fenster schaue, blicke ich auf einen Friedhof. Dort liegen auch meine Großmutter und mein Großvater begraben. Ich besuche oft ihr Grab und mache dann noch einen Spaziergang. Es ist kein großes Feld, es liegen auch keine berühmten Zeitgenossen dort. Dennoch ist es eine Friedensstätte schon deswegen, weil hier, umgeben von mehreren Straßen, die sich um das Gelände schlängeln, manchmal paradiesische Ruhe herrscht. Das Schnaufen der Automobile, vereinzeltes Gehupe und Feuerwehrsirenen verkommen zu einem Geräuschwurm, der sich nur mit Mühe in den von vielen Eiben, Linden und Eichen umstellten Gottesacker hineinbohren kann. Hier findet sich mit dem Krummen Pfuhl auch eine Trauerhalle im schönen Jugendstil, die unter Denkmalschutz steht. Friedhöfe hatten für mich schon immer eine große Anziehungskraft: Hier benehmen sich die Menschen anders, alles ist mit Symbolik aufgeladen. Ich bin in Arbeitspausen oft über diese Friedenshaine, weil ich schnell zu Kräften komme, wenn mich n...

Nimmermehr

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Früher waren die Menschen einfacher zu erschrecken.   

Gesunder Menschenverstand

Die größte Gefahr für ein paranoides Weltverständnis ist der gesunde Menschenverstand. 

Wunden

„Wunden sind, wenn sie uns nicht umbringen, der wahre Weg zum Leben.“ Oliver Sacks

Verzicht und Kontemplation

„Wenn das Herz denken könnte, würde es stillstehen. Was bleibt jemandem, der wie ich lebendig ist und doch kein Leben zu haben versteht - ebenso wie den wenigen Menschen meiner Art - anders übrig als der Verzicht als Lebensweise und die Kontemplation als Schicksal?“ Fernando Pessoa, „Das Buch der Unruhe“

Man liest nie aus

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Wer versteht mehr von Literatur: Der Mann auf der einsamen Insel mit einem einzigen Buch, das er hundertmal gelesen hat – oder der Bohemien in seiner Stadtwohnung, umgeben von einer luxuriösen Bibliothek, der jeden Tag ein neues Buch verschlingt?  Für den Inselmenschen ist sein Buch wie eine Geliebte. Er kennt jede Falte, erspäht Wiederholungen, weiß um Stärken und Schwächen. Er hat es verinnerlicht und vielleicht sogar schon vom Geschriebenen geträumt. Für ihn ist das Buch eine ganze Welt aus Echos, Widersprüchen und vertrauten Rätseln.  Für den Ästheten hingegen ist die Literatur wie eine Stadt, durch die er flaniert. Er ist ein Sammler und weiß, wie Themen wandern und Stile sich ändern. Wenn er aus ihnen zitiert, dann schon deswegen, weil auch die Autoren, die er liest, sich aufeinander berufen.  Der eine bohrt in die Tiefe (weil er es muss), der andere sucht nach dem Horizont (weil er es will). Im Pendeln zwischen dem einen Satz, den man hunderte Male liest und daher ...

Die Unfähigkeit zu trauern

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Am 14. Oktober verschwinden von einem Moment auf den anderen 170 Millionen Menschen. Exakt zwei Prozent der Menschheit. Keiner weiß, wo sie abgeblieben sind. Niemand weiß eine Antwort darauf, warum es die einen aus der Welt geworfen hat und die anderen nicht. In einigen Städten gibt es nicht eine Person, die vermisst wird, in anderen Orten werden ganze Familien radikal dezimiert. Irgendwann einigen sich die Verbliebenen, die keine plausible Erklärung für das Ereignis finden, von einer plötzlichen Entrückung zu sprechen. Ein Forschungsinstitut wird gegründet, das statistisch erfassen soll, was all die Verschwundenen gemeinsam hatten. Viele wissen nicht, wohin mit ihrer Trauer. Kommen ihre Lieben, ihre Freunde, ihre Nachbarn wieder zurück? Getrauert werden kann nur um Tote, nicht um Verschwundene… Wie mit den Zweifeln umgehen? Doch der Alltag muss für die Zurückgelassenen weitergehen. Arbeit muss getan werden, Kinder müssen erzogen werden, Einkäufe sollten erledigt werden. Irge...

Gefälle

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Krisengewinne, Strukturwandel, Immobilieninflation, Finanzialisierung, überhaupt die Globalisierung – es gibt viele Gründe, warum reiche Menschen in den letzten Jahrzehnten immer wohlhabender geworden sind. Die Armen werden dabei nicht zwingend ärmer, aber sie werden relativ abgehängt. Der Verlust gemeinsamer kultureller Maßstäbe – was heute als Erfolg, Teilhabe oder Bildung gilt – sorgt zusätzlich dafür, dass sich immer mehr Menschen als benachteiligt wahrnehmen und Armut zunehmend als persönliches Schicksal hingenommen wird. Soziologen und Ökonomen halten dem das alte Versprechen der Bildung als Möglichkeit zum sozialen Aufstieg entgegen. Doch der digitale Wandel, verstärkt durch den Fortschritt künstlicher Intelligenz, spaltet auch diese Hoffnung. Während die einen die neuen Werkzeuge nutzen, um Wissen zu mehren und ihren Alltag effizienter zu gestalten (was ökonomische und zeitliche Vorteile mit sich bringt), richten sich andere in einer digitalen Verelendung ein, die ihnen zwar un...