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Es werden Posts vom 2010 angezeigt.

Zeitenwende (11)

Der amerikanische Traum baut nicht darauf auf, dass ein Mensch es in jedem möglichen Bereich zu etwas bringen und deshalb erfolgreich werden kann. Er verlockt stattdessen mit dem Angebot, dass jeder – wenn er fleißig und talentiert, aber vor allem auf der Suche nach dem wahren Glück ist – immer (wieder) erfolgreich sein kann. Das Märchen vom Tellerwäscher, der Millionär wird, ist dabei schon ein von fremdem Geist verstümmelter Ansatz. Denn es geht nicht darum, ganz unten anzufangen, um dann mit dem Geld in der Tasche aufzuhören. Der Millionär wäre nur eine andere Form des Arbeitslosen. Nein, der amerikanische Traum verlangt danach, immer weiter zu machen. Der Beruf ist nicht entscheidend, für die Berufung interessiert sich kein Mensch. Das Geldmachen ist entscheidend. Das Weitermachen ist das Ziel. Während der Begriff des Berufs aber vom starken Staat abhängt, der die existenzielle Verausgabung in einem Arbeitsbereich mit großen Geldflüssen unterstützt (z.B. durch die Kopplung von So

Zeitenwende (10)

Vor nicht allzu langer Zeit fragte man sich noch scherzeshalber, ob man arbeite, um zu leben oder ob man lebe, um zu arbeiten. Die Frage ist obsolet, der Witz ist schal geworden. Arbeit und Leben sind in Wahrheit miteinander verschmolzen. Und zwar so sehr, dass es keiner mehr bemerken will. Natürlich liest man die E-Mail des Chefs auch noch daheim vor dem Rechner – und lässt sie nicht geschlossen bis zum nächsten Tag. Das Problem geht aber über die Selbstkasteiungen des Durchschnitt-Workaholics weit hinaus. Es mag ehrenwert sein, wenn man sich über seinen Beruf selbst definiert. Wird man aber auch in der Freizeit sein Lehrer, Arzt- und Kundenmanagementdasein nicht los, dann definiert der Beruf das eigene Leben. Weitaus schlimmer geht es dem Arbeitslosen, der sich dieses Makels nicht mehr entledigen kann. Hilflos nennt er sich selbst, wie es ihm die Arbeitsbehörde empfiehlt, Arbeitssuchender. Wer nicht arbeit sucht, ist kein Mensch mehr. Die Arbeitsethik unserer Zeit hat die Ausbild

Zeitenwende: Sequenzen (2)

Mark Zuckerberg über die Zukunft sozialer Normen: "Als ich in meinem Zimmer in Harvard mit Facebook begann, fragten sich viele Menschen, warum sie überhaupt Informationen über sich ins Web stellen sollen." "Menschen sind einverstanden damit, Informationen über sich mit anderen zu teilen und werden immer offener zu immer mehr Menschen. Die sozialen Normen hier haben sich in der Zeit entwickelt." "Wir sehen es als unsere Rolle in dem System an, ständig Veränderungen umzusetzen und unsere Software so anzupassen, dass sie widerspiegelt, wie die sozialen Normen gegenwärtig sind." (SpiegelOnline, 10.1.2010, Facebook-Boss nennt weniger Datenschutz zeitgemäß) Eric Schmidt über das Internet: "Wenn es etwas gibt, von dem sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun." (SpiegelOnline, 8.12.2009, Google will die Weltherrschaft)

Zeitenwende: Sequenzen

Mario Barth. Männer sind peinlich, Frauen manchmal auch. DVD-Begleittext. Sony 2010. Deutschlands erfolgreichster Comedian hat vor mehr als 20.000 Zuschauern in Berlins größter Veranstaltungshalle sein bislang erfolgreichstes Stand-Up-Comedy-Programm ‚Männer sind peinlich, Frauen manchmal auch!‘ aufgezeichnet, mit 12 HD-Kameras und optimalem 5.1 Dolby Digital Surround Sound. Die größte Paartherapie geht weiter. „…was soll ich sagen: die geilste Stimmung, die ich je hatte. Der Saal hat getobt, das Bühnenbild war der absolute Hammer und die Emotionen sind explodiert. Das war für mich der geilste Auftritt in meiner Karriere! Ich bin so stolz auf meine Fans. ihr seid die BESTEN!“ Interview mit Helene Hegemann in SPEX #328, S. 50. Über einen Blog, den Helene Hegemann mit 13 Jahren erstellte: Das fand ich zu dem Zeitpunkt total stilvoll, zumal ich damals so einen Niedlichkeitskult zelebrierte. Nicht weil ich konkret irgendwelche dämlichen Kinderbuchfiguren gut fand, sondern weil e

Zeitenwende (9)

Gesellschaften verändern sich nur langsam, Gemeinschaften umso schneller. Seit dem Eintritt ins Internetzeitalter unterliegen die Bedingungen für Gemeinschaftsstrukturen einer krassen, wenn nicht sogar revolutionären Verwandlung. Die Geschwindigkeit dieses Umschwungs, der auch als Wandel der menschlichen Kommunikation verstanden werden kann – umso mehr, da es sich hier vor allem um eine Erweiterung der Möglichkeiten handelt –, lässt sich schon allein daran abmessen, dass sich kaum eine Wertediskussion den Hinweis auf die Gefährlichkeit, Oberflächlichkeit und Offenheit dieser neuartigen Gemeinschaftsstrukturen verbieten kann. Diesen Wechsel aber allein auf den Beginn des digitalen Zeitalters festzunageln, ist ein großes Missverständnis. Zum einen befinden wir uns nicht an der Schwelle zur digitalen Ara, sondern wir stehen mitten drin. Zum anderen folgt die Mentalität der Gemeinschaftspluralisierung der Logik einer sich zersetzenden öffentlichen Gesellschaft. Hin zum Privaten, zurück zu

Zeitenwende (8)

Die Suche nach Genuss ist etwas zutiefst Menschliches – und wird deshalb von allen Seiten pervertiert. Abermilliarden Lebensmittel werden wegen ihres besonderen Geschmack, ihrer hohen Qualität und ihrer besonderen Herstellung empfohlen. Es gibt tausende Schokoladensorten, unzählige Kaffee- und Teemarken, Joghurts mit Geschmacksrichtungen, die man sich nicht einmal im Traum ausmalen würde und Äpfel, deren Name pure Poesie ist. Die Käsetheke ist zum Treffpunkt des Genussdandys unserer Zeit geworden. Wer hier Geschmack beschreiben und Sorte richtig ausgesprochen nennen kann, ist im Genießerolymp angekommen. Aber es gibt nicht nur diese Seite des Genusses. Tütensuppen, Fertigprodukte und allerlei Modeprodukte erhalten ihren Geschmack erst durch eine Unzahl an Geschmacksverstärkern. Seit Jahrzehnten regiert das Fast-Food den hungrigen Verstand, wenn es darum geht, schnell und bequem, aber auch billig etwas zu essen zu bekommen. Die Tiefkühlpizza ist das Wunderprodukt des 21. Jahrhunderts

Zeitenwende (7)

Wer ständig von Gesundheit spricht, muss das Kranke um sich (und in sich) spüren. Wenn der Gesundheitskult auch zunächst den Anschein einer durchaus humanistischen Form der Selbstfürsorge hat, offenbart sich bei näherer Betrachtung das Konzept einer radikalen Bio-Politik, wie sie von zahlreichen Denkern des 20. Jahrhunderts bereits vorausgeahnt wurde. Nur ein gesunder Staatsbürger ist auch ein guter Staatsbürger. Eine Lehre daraus: Die Repression muss längst nicht mehr vom Staat ausgehen. Der Bürger unterdrückt sich selbst, in dem er sich einer wohlklingenden Körperutopie unterwirft, die entweder Optimierung des Natürlichen verheißt (das Wohl der plastischen Chirurgie) oder „Gesundung“ durch Körperfolter. In beiden Fällen ist Gesundheit ein Zustand, der hergestellt wird. Verspricht die Schönheitschirurgie ewige Jugendlichkeit, so deutet sie auch an, dass sie das Altern, dieses kontinuierliche Krankwerden auf dem Weg zum Tod, aufhalten möchte. Schönheit wird zum Produkt erhoben, da

Zeitenwende (6)

Kein Geburtstagsständchen, keine Weihnachtsbotschaft und schon gar kein Neujahrsgruß ohne den Wunsch nach guter Gesundheit. Nie hatte die Gesundheit einen solchen Stellenwert wie heute. Nie war sie ein solch begehrenswertes Gut. Denn nie waren die Menschen in der westlichen Welt so gesund wie heute. Sie sind so gesund, dass sie über die Vorstellung nicht mehr gesund zu sein, krank werden. Seit Robert Koch die Gesundheitsindustrie aus der Taufe hob, entwickelte sich die Medizin rasendschnell. Sie entwickelte sich so schnell, dass ihr Wunschtraum heute längst nicht mehr in der Bekämpfung, sondern in der Prävention von Krankheiten liegt. Die großen Unbekannten heißen Krebs, AIDS und Depression – an ihrer Widerlegung arbeiten Millionen von Wissenschaftlern. Die kleinen Malaisen aber, von Diabetes bis zum grauen Star, werden zur Bagatelle herunterstilisiert. Sie spielen keine Rolle mehr. Man kann sie verhindern. Genetische Faktoren hin oder her – das Mantra der modernen Gesundheitsprophe

Zeitenwende (5)

Während Krebs radikal den Umgang mit dem Tod in Frage stellt, stellt die Depression entscheidende Fragen zum Leben. Die Urangst vor dem Tod wandelt sich zur Urangst vor dem Sterben. Eine Krebserkrankung mag therapierbar sein. Doch die Sorge, dass der Krebs wieder ausbrechen könnte – dass er zurückkehren könnte wie ein Dämon, der nur für kurze Zeit vertrieben scheint – wird den einmal erkrankten Patienten nie wieder loslassen. Krebs kommt von innen, er ist Teil des Körpers. Anstatt ein Verfallssymptom zu sein ist er ein Wachstumssymptom. Falsch programmiertes, fehlgeleitetes Wachstum. Über Krebs kann man nicht sprechen, nur über seine Zerstörung, seine Heilung. So reihen sich Geschichten an Geschichten von der großen Lebensenergie, die Krebspatienten aufbringen mussten, um ihren Krebs zu besiegen. Manche geben ihrem Tumor einen Namen. Mit dem Krebs zu sterben bedeutet zweierlei: Entweder schlägt die Behandlung an und schenkt dem Erkrankten scheinbar ein zweites Leben, führt dann

Zeitenwende (4)

Wettbewerb ist der Schmierstoff demokratischer Gesellschaften. Ob sich nun Sportler in der Arena duellieren, Schüler in der Schule mit Noten gegenüber anderen ihren geistigen wie gesellschaftlichen Status demonstrieren, Firmen ihre wirtschaftliche Potenz in Entwicklungs-Rankings untermauern oder Lebensmitteldiscounter mit dem allerniedrigsten Preis werben (oder Feinkosthändler mit dem höchsten) – allen wesentlichen menschlichen Erfolgen scheint ein Wettbewerb vorauszugehen. Nur wer am Wettbewerb teilnimmt, wird überhaupt beachtet. Wer sich dem Wettbewerb verschließt, schließt sich aus der Gesellschaft aus. Egal, wie man es dreht und wendet, eine Welt ohne Wettbewerb ist nicht vorstellbar. Natürlich sind Fragen zur anthropologischen Verankerung eines Kampfes aller gegen aller, von Staat und Bürgertum angeblich domestiziert, willkommen. Es wären wichtige Fragen zum Zustand des Menschen am Anfang des dritten Jahrtausends. Fragen, die nicht gestellt werden, weil sie an das schmerzhafte

Zeitenwende (3)

Innerhalb einer Kultur gewinnen bestimmte Institutionen, Medien und Künste eine gewisse Wirkung auf die Gesellschaft, so dass man sie gesellschaftsprägend nennen könnte. Sie sind sogar so prägend, dass sie nicht nur die Gewohnheiten und Vorlieben der Menschen verändern, sondern auch ihr Denken (und Fühlen!) massiv verformen. Man denke nur an die Funktion von Radio und Kino in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Für das 21. Jahrhundert gilt, dass der Sport eine solche gesellschaftsprägende Wirkung innehat. Sport ist heute der bedeutendste Kulturfaktor. Und wenn man davon ausgeht, dass sich Kultur und Wirtschaft in einem kapitalistischen System wechselseitig bedingen, dann muss man nur die euphorischen Massen beobachten, wie sie Wochenende für Wochenende ihre Lieblingsmannschaft ob nun im Fußball, Football oder Eishockey, im Tennis, in der Leichtathletik oder in der Formel 1 nach vorne treiben und gleichzeitig Unsummen für Stadionbesuch, Fernseherlebnis, Trikot und Merc

Zeitenwende (2)

Die Kulturkritik ist dem Tode nahe. Und niemand schaut zu. Kulturkritik verstehe ich weniger als medial konfiguriertes Produkt. Wäre es so einfach, dann würden ganz andere Theaterstücke aufgeführt und ganz andere Musikstücke im Radio gespielt werden. Kulturkritik ist ein Vorgang, ein Prozess, mit dem jeder, wirklich jeder Mensch Einfluss auf die Kultur ausüben kann, in der er lebt. Kultur ist Menschenwerk und muss auch von Menschen kritisch hinterfragt werden. Übernehmen erst einmal seelenlose technische Systeme diese Aufgabe – und das tun sie, wenn man nur an Google denkt –, dann verliert der einzelne Mensch immer mehr an Einfluss. Er wird zum hilflosen Konsumenten, der sich aber nicht hilflos fühlt. Ganz im Gegenteil. Er freut sich sogar über das immer größer werdende Angebot, das ihm so sehr zu entsprechen scheint. Kultur hat aber einen politischen Wert. Das gilt am meisten für die Kunst. Die oftmals als Kassandrarufe interpretierten Werke von Schriftstellern oder Malern sind in W